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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Balkan, in Russland. Aus diesen Wi<strong>der</strong>sprüchen wurden<br />

soziale, wirtschaftliche, kulturelle und schließlich, in <strong>der</strong><br />

Ukraine, ein militärischer Konflikt.<br />

Es gibt für diese Lebenslüge eine große Zahl geschichtlicher<br />

Parallelen. Jede ist fürchterlich.<br />

Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Wir wissen nicht,<br />

was <strong>der</strong> morgige Tag bringt, die nächste Stunde.<br />

Und gleichzeitig verstehen wir genau, wie unsere Zukunft<br />

aussieht. Das Fenster schließt sich. Viel Zeit bleibt nicht,<br />

um die Katastrophe abzuwenden. Wir wissen alle, was getan<br />

werden muss. Das Ziel je<strong>der</strong> politischen Maßnahme<br />

muss sein, den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren,<br />

und zwar jetzt, und zwar in einer Größenordnung, die unsere<br />

Wirtschaft, unsere Gesellschaft, zu einer neuen, zu<br />

einer nächsten industriellen Revolution zwingt. Woher die<br />

Energie für weniger Energie?<br />

UNSERE GESELLSCHAFT,<br />

DIE WESTLICHE,<br />

LIBERALE DEMOKRATIE,<br />

IST VERLETZLICH, WEIL<br />

SIE EINEN INNEREN<br />

WIDERSPRUCH NICHT<br />

GELÖST HAT.<br />

Wir wissen auch, dass diese Aufgabe die nächsten Generationen<br />

beschäftigten wird, und wir wissen auch, dass diese<br />

Aufgabe nur global gelöst werden kann. Aber wie soll das<br />

geschehen, in einer Welt, die in strategische Hemisphären<br />

zerfällt? In einer Welt, die den Krieg als Mittel zur Durchsetzung<br />

politischer Interessen nicht überwunden hat? Denken<br />

wir an eine CO2-neutrale Aufrüstung? An Panzer aus erneuerbaren<br />

Energien? Waffen werden mo<strong>der</strong>ner, <strong>der</strong> Krieg<br />

bleibt, was er war: blutig, hoffnungslos, am teuersten bezahlt<br />

von den Ärmsten, von jenen, die nicht fliehen können,<br />

nicht vor <strong>der</strong> Einberufung und nicht vor den Bomben.<br />

Brauchen wir neue Glaubenssätze, brauchen wir einen<br />

neuen Irrtum? Die Illusionen, die Erzählungen bestimmen<br />

die Geschichte. Die Projektionen, die Ängste und die<br />

Sehnsüchte <strong>der</strong> Menschen leiten ihr Tun. Wir glauben, was<br />

uns dienlich ist, was unsere Vorstellung nicht ins Wanken<br />

bringt, die Vorstellung, wie die Welt zu sein hat. In den letzten<br />

vier, fünf Generationen sollte die Welt vor allem wirtschaftlich<br />

und berechenbar sein. Wir haben Informationen<br />

gesammelt, wir haben das menschliche Leben zu einem<br />

Datensatz gemacht, wir vergleichen diese Daten und<br />

erstellen Rankings und Ratings, die wir global anwenden.<br />

Wir vermessen, wir fügen die Zahl in eine Tabelle, sie erscheint<br />

in einer Spalte und in einer Zeile, und beides bedarf<br />

<strong>der</strong> Erfindung einer Kategorie. Ohne Kategorien keine<br />

Preise, keine Werte, keine Währung, kein Vermögen und<br />

kein Status. Aber die Kategorien wie die Warte, die Spalten<br />

wie die Zeilen, die X- und die Y-Achse: Alles Modelle,<br />

nichts davon ist die Welt.<br />

Die Welt ist reich, und sie ist we<strong>der</strong> friedlich noch sicher.<br />

Frieden und Sicherheit sind betriebsökonomisch ein Mangel:<br />

Die Angestellten gewöhnen sich an Abläufe, während<br />

das Unternehmen, will es am Markt bestehen, sich beständig<br />

transformieren muss.<br />

Unsere Gesellschaft, die westliche, liberale Demokratie,<br />

ist verletzlich, weil sie einen inneren Wi<strong>der</strong>spruch nicht<br />

gelöst hat.<br />

Sie ist abhängig von Tyrannen, von Autokraten und Diktatoren.<br />

Unsere demokratische Gesellschaft ist erpressbar<br />

durch ihren Energiehunger, durch diese unstillbare Gier<br />

nach Öl, nach Gas, nach Kohle.<br />

Die westlichen Demokratien sind süchtige Gesellschaften.<br />

Auf gewisse Betriebsstoffe können sie nicht verzichten, sie<br />

kann sie höchstens ersetzen, substituieren, und dies nur<br />

mit Geduld und unter Qualen.<br />

Die Betriebsmittel unserer westlichen Demokratien werden<br />

nach Rezepten eingesetzt, nach Regeln, die heute esoterisch<br />

erscheinen. Die makroökonomischen Heilsworte<br />

lauten Wettbewerb, Wachstum, Marktdynamik. Es gibt<br />

einen Zusammenhang zwischen Krieg und Wirtschaft. Es<br />

gibt einen Zusammenhang zwischen dem Öl, das unsere<br />

Stuben heizt, und dem Öl, das die Waffensysteme herstellt<br />

und antreibt.<br />

Vorstellungen, wie wir aus dieser tödlichen Falle entrinnen<br />

können, in die uns die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft geführt hat,<br />

gibt es zwar, aber auch das Okapi und den Schneckenkönig<br />

gibt es, einfach sehr selten. Selbst <strong>der</strong> Gedanke,<br />

jemand könnte eine Utopie haben, wirkt utopisch. Entwürfe<br />

sind nutzlos. Die Welt ist schließlich gebaut, wir<br />

können sie im besten Fall entwickeln. Dazu brauchen wir<br />

den technologischen Fortschritt. Er ist das Äußerste an<br />

visionärer Kraft. Die Lösung muss und wird instrumentell<br />

sein, höhere Effizienz, geringere Kosten, verbesserte Produktivität.<br />

Für den Rest, für die Kolbenklemmer, für die<br />

porösen Stellen des Systems bedienten wir uns einer alten<br />

Methode, <strong>der</strong> Flickschusterei.<br />

Wie wichtig nahmen wir den Nutzen, wie nebensächlich<br />

war uns die Freude! Wer traute sich, auf ihr zu bestehen?<br />

Wer wagt es jetzt noch, aus <strong>der</strong> Fülle seiner Lebenswelt,<br />

außer <strong>der</strong> Knappheit seiner Lebenszeit zu argumentieren?<br />

Wer versucht eine Politik, die auf die guten Momente im<br />

menschlichen Leben setzt? Wer begreift die Freude als<br />

soziale Größe? Wer begreift, wie kostbar sie ist, wie selten,<br />

wie knapp? Wer darauf besteht, muss mit Kürzungen rechnen<br />

und mit dem Hohn und Spott <strong>der</strong> Macht. Die Macht<br />

verlangt Kennzahlen, und in eine solche passt die Freude<br />

nicht, <strong>der</strong> Hass nicht, die Träume nicht, nicht die süßen,<br />

nicht die Albmahre.<br />

Was berechenbar war, hielt man für realistisch, hielt man<br />

für die Wirklichkeit, aber Gleichungen sind Traumgebilde,<br />

bestenfalls Symbole, und sie neigen dazu, Fetische<br />

zu werden. Sie bilden ab, was sie fassen können, und sie<br />

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