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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Wir beschließen mit Łukasz, dass wir die Gruppe so beschreiben,<br />

als ob es sie schon seit Jahrzehnten gäbe, was<br />

bedeutet, dass ich mich in meiner Vorstellung in die Zukunft<br />

bewegen muss. Ich habe Angst, dass ich <strong>der</strong> Aufgabe<br />

nicht gewachsen bin. Dass meine Vorstellungskraft sich<br />

als recht schwach herausstellt. Dass ich keine Zukunft für<br />

eine Gruppe erfinden werde, die ich noch nicht einmal in<br />

<strong>der</strong> Gegenwart kenne. Ich habe Angst vor Klischees. Die<br />

Popkultur kennt viele Zukunftsvisionen. Zum Beispiel überall<br />

Wüste. Ich will nicht, dass diese Visionen in mein Skript<br />

einsickern. Lange weiß ich nicht, was mir noch einfallen<br />

könnte. Ich schlage Łukasz vor, dass die Welt, über die wir<br />

erzählen, frei von Tieren ist. Sie sind alle ausgestorben.<br />

Und manche Teile des menschlichen Bewusstseins lassen<br />

sich mithilfe von Pharmakologie sehr gezielt ausschalten.<br />

Der Körper schmerzt, aber das Gehirn weiß es nicht. Die<br />

Arme und Beine bewegen sich seit 72 Stunden, aber ihr<br />

Besitzer fühlt keine Müdigkeit. Ich weiß nicht, ob das originell<br />

ist, aber im Moment ist mir das egal. Ich fühle mich<br />

von <strong>der</strong> Gruppe betrogen. Sie predigen Liebe und Zärtlichkeit,<br />

aber keiner von ihnen hat mich zu sich eingeladen. Sie<br />

warten auf das Drehbuch. Wenn es in Ordnung ist, dann<br />

werde ich mich ihnen anschließen können.<br />

*<br />

WENN WIR TANZEN,<br />

ATMET DANN IN<br />

UNSEREN MUSKELN<br />

DIE ERINNERUNG VON<br />

ANDEREN TANZENDEN<br />

KÖRPERN?<br />

Es gibt eine Szene im Skript, die entstand, als ich <strong>der</strong><br />

Gruppe im August 2020 beitrat. Die Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />

blicken auf ihr Ich aus <strong>der</strong> Vergangenheit zurück. Die aus<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit sind wie die Amische gekleidet. Sie machen<br />

dieselben Gesten wie jene aus <strong>der</strong> Gegenwart. Sie<br />

sprechen dieselben Sätze, als würde ein Echo zwischen<br />

den beiden Zeitperspektiven hin und her pendeln. Bei diesem<br />

Treffen haben wir versucht, die Träger des Fortbestehens<br />

zu finden. Hinterlassen Wesen, die im Laufe <strong>der</strong><br />

Zeit durch an<strong>der</strong>e Wesen ersetzt werden, Spuren im Universum?<br />

Wenn dem so ist, dann wie? In <strong>der</strong> Sprache? Im<br />

Unbewusstsein? In den Genen? In <strong>der</strong> Erinnerung? Wenn<br />

wir tanzen, atmet dann in unseren Muskeln die Erinnerung<br />

von an<strong>der</strong>en tanzenden Körpern?<br />

*<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe habe ich seit 1,5 Jahren nicht<br />

mehr gesehen. Seit unserem letzten gemeinsamen Tanz<br />

habe ich viele Male getanzt. An an<strong>der</strong>en Orten, mit an<strong>der</strong>en<br />

Menschen. Ich bin Atheistin, ich glaube nicht an Gott.<br />

Oft fällt es mir deshalb sehr schwer, beson<strong>der</strong>s jetzt. Seit<br />

Tagen wache ich auf und denke mir: Ja, du lebst noch.<br />

Ich frage mich, ob etwas von mir irgendwo bleiben wird,<br />

wenn ich sterbe?<br />

Es geht mir nicht um materielle Dinge. Ich denke vielmehr<br />

an die Kontinuität bestimmter Bewegungen, intellektueller<br />

Prozesse, an private Philosophie. Ich schätze, ich werde<br />

einfach mit meinem Tod verschwinden, das war es dann.<br />

Aber ich weiß, dass bestimmte Emotionen und Gefühle,<br />

die ich erlebe, in genau <strong>der</strong> gleichen Gestalt in einer an<strong>der</strong>en<br />

Person erscheinen werden. Eine dieser emotionalen<br />

Konstellationen, die ich spüre – und dessen bin ich mir<br />

sicher –, die in Zukunft jemand nachspüren wird, ist das<br />

Gefühl, das mich erfüllt, wenn ich mit an<strong>der</strong>en Menschen<br />

in irgendeinem Raum tanze.<br />

*<br />

Während ich diesen Text schreibe, reiße ich mich immer<br />

wie<strong>der</strong> vom geöffneten Fenster meines Schreibprogramms<br />

los und schaue auf die Nachrichten. Es ist Anfang<br />

März <strong>2022</strong>. Seit einer Woche ist Krieg in <strong>der</strong> Ukraine.<br />

*<br />

Bis 2020 hatte ich nie Angststörungen. O<strong>der</strong> ich wusste<br />

nicht, dass ich daran litt, weil ich ständig in Bewegung<br />

war und es keine Gelegenheit gab, die Angst zu spüren,<br />

die mich vielleicht manchmal erfüllte. Als die Pandemie<br />

begann und die Tage leer wurden, hatte die Angst endlich<br />

genug Raum und Zeit. Hey, ich bin hier, lernen wir uns<br />

kennen. Ich hasse sie. Ich bevorzuge gewöhnliche Angst.<br />

Sie dauert nicht so lange und man weiß, woher sie kommt.<br />

*<br />

Bewegung ist gut gegen Angst. Wenn du in Bewegung<br />

bist, hat Angst keinen Platz. Deshalb sind die Clubs am<br />

Wochenende voller tanzen<strong>der</strong> Menschen und an Wochentagen<br />

rennen die Leute zum Bus, als ob <strong>der</strong> nächste nicht<br />

in fünf Minuten käme.<br />

*<br />

In <strong>der</strong> Pandemie stellte sich heraus, dass die Einzimmerwohnung,<br />

in <strong>der</strong> ich mit meinem Partner lebte, für uns<br />

nicht ausreichte. Wir nahmen all unser Geld zusammen<br />

und kauften eine Wohnung. Ein Jahr lang haben wir sie<br />

renoviert. In Polen ist die Renovierung ein traumatischer<br />

Prozess. Ich habe zwei harte Jahre hinter mir und noch<br />

schlimmere Jahre vor mir. Die Angst ist überwältigend. Ich<br />

laufe in meiner neuen Wohnung umher und bleibe hin und<br />

wie<strong>der</strong> hängen. Ich stehe still und reglos da. Ab und zu<br />

schaue ich aus dem Fenster und beobachte das Gebäude<br />

<strong>der</strong> polnischen Spionageabwehr. Meine Wohnung befindet<br />

sich in einem Altbau, <strong>der</strong> von Regierungsgebäuden<br />

des Militärs umgeben ist. Ich stelle mir vor, dass ich eines<br />

Tages nicht aufwache und es nicht einmal merke – meine<br />

Nachbarn auch nicht.<br />

*<br />

Als Anfang 2020 in den Medien geschrieben stand, dass<br />

die Pandemie bis zu zwei Jahre andauern könne, habe ich<br />

gesagt: Das ist unmöglich. Als mich mein Vater vor drei Wochen<br />

fragte, ob ich glaube, dass es einen Krieg geben wird,<br />

sagte ich: ein gewöhnlichen nicht, vielleicht einen hybriden.<br />

*<br />

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