Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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kippend, auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren.<br />
Die Vielschichtigkeit <strong>der</strong> Dinge erkennen. Es<br />
ist eine Kraft, auf dieser Mittellinie zu sein, in dieser<br />
immer kippenden Zwischenzone. Bei promise me geht<br />
es darum, Risiken einzugehen und Gewissheiten loszulassen,<br />
so haben wir es in Worte gefasst. Auf dem<br />
Papier klingt das hohl; in Wirklichkeit verweisen diese<br />
Sätze auf eine Haltung, eine Art, im Leben zu stehen,<br />
wofür du stark sein musst. Unser Motto für diese Leistung<br />
lautet: Stell Risiko über Stabilität. Neugierde über<br />
Angst. Zusammengehörigkeit über Selbsterhalt.<br />
Kwint: Wir improvisierten während einer Probe zu dem<br />
Slogan »Ich habe es noch nie getan, aber ich denke<br />
schon, dass ich es kann«. Dieser Satz führte in <strong>der</strong><br />
Gruppe eine Denkweise ein, die für den gesamten Entstehungsprozess<br />
des Stücks entscheidend war. Es ist<br />
ein praktischer Satz, <strong>der</strong> den Kin<strong>der</strong>n geholfen hat, die<br />
richtige Intention zu finden, mit <strong>der</strong> sie in die Aufführungen<br />
gehen. Der sie inspirierte, Bil<strong>der</strong> und Bewegungen<br />
zu kreieren. Wir sind weit entfernt von philosophischen<br />
Diskursen in den Proben. Wir sprechen mit den<br />
Kin<strong>der</strong>n kaum über die Themen, son<strong>der</strong>n übersetzen<br />
sie in Aufgaben, bei denen sie die Dinge rein körperlich<br />
erleben und verinnerlichen. Sie nähern sich allmählich<br />
den Themen, indem sie sie in ihren Körpern spüren,<br />
indem sie sie tanzen.<br />
Wir bemühen uns, unsere gesamte Arbeit in dieser<br />
Grauzone anzusiedeln. Ist es für ein junges Publikum?<br />
Ist es Tanz o<strong>der</strong> Theater? Ist es schön o<strong>der</strong> ist es grauenvoll?<br />
Ist ein zehnjähriger Körper, <strong>der</strong> tanzt, authentisch<br />
o<strong>der</strong> manipuliert? In unseren Augen sind das nicht<br />
die relevanten Fragen. Wir geben sie gerne zurück.<br />
promise me – versprich mir: Darin höre ich eine For<strong>der</strong>ung.<br />
Joke: Es handelt sich in <strong>der</strong> Tat um einen Appell. Ein<br />
Schrei nach ... Wonach genau, lässt sich nicht direkt<br />
in Worte fassen. Ich liebe das Bild einer Hand, die das<br />
Kinn eines:einer an<strong>der</strong>en ergreift, um buchstäblich seine:ihre<br />
Blickrichtung zu bestimmen, und um Aufmerksamkeit<br />
bittet. In dieser Geste steckt nicht nur eine<br />
Frage an die:den an<strong>der</strong>e:n; es ist auch eine Geste des<br />
Vertrauens, weil du nicht einfach so jemandem ins Gesicht<br />
fasst.<br />
Das ist wie<strong>der</strong> eine doppelte For<strong>der</strong>ung. »Gib mir so<br />
viel Vertrauen und Sicherheit, dass ich mich völlig frei<br />
fühlen kann.« Ich denke, die Welt braucht das wirklich,<br />
Menschen, die aus eigener Kraft stehen dürfen und<br />
können. Und ihre Stärke nicht aus einer vermeintlichen<br />
Identität beziehen, aus <strong>der</strong> Gruppe, <strong>der</strong> sie angehören,<br />
aus einer Dynamik des Wir/Sie. Wenn du dich von dieser<br />
Art des Denkens befreist, findest du vielleicht zu<br />
einer Vitalität zurück, die hoffentlich ansteckend wirkt.<br />
Seit eineinhalb Jahren bereiten wir auch ein zukünftiges<br />
Projekt mit palästinensischen Tänzer:innen und<br />
Kin<strong>der</strong>n vor. Bewohner:innen des Westjordanlands<br />
und des Gazastreifens. Auch dieses Projekt hat sich<br />
in unsere Proben geschlichen. promise me hat einen<br />
Unterton von Resilienz und Resistenz. Gib dich nicht<br />
mit dem zufrieden, was dir vorgesetzt wird, und übernimm<br />
die Verantwortung für das, was du tust.<br />
Eure Arbeit ist stets von <strong>der</strong> bildenden Kunst inspiriert.<br />
Gibt es Werke von Künstler:innen, die euch zu promise me<br />
angeregt haben?<br />
Kwint: Michaël Borremans’ Serie Fire from the Sun.<br />
Kleine Kin<strong>der</strong>, die sich gegenseitig mit Blut beschmieren.<br />
Auf dem Boden liegen menschliche Einzelteile.<br />
Was uns ins Auge fiel, war nicht <strong>der</strong> Schrecken dieser<br />
Szenen, son<strong>der</strong>n die Neugier <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auf ihre<br />
eigenen Körper und die <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Sehr animalisch.<br />
Daneben die Gemälde von Caravaggio, die Grauen und<br />
Schönheit vereinen.<br />
Es gibt den Film Buddha Collapsed Out of Shame <strong>der</strong><br />
iranischen Filmemacherin Hana Makhmalbaf, gedreht<br />
in dem afghanischen Dorf, wo die historischen Buddhastatuen,<br />
die in den Fels gehauen waren, von den<br />
Taliban gesprengt wurden. Der Film zeigt die Willenskraft<br />
eines Mädchens, Lesen zu lernen. Uns inspirierte<br />
die Art und Weise, wie die Filmemacherin diese Willenskraft<br />
in Bil<strong>der</strong>n dargestellt hat. Wie dieses Mädchen<br />
Kriegstraumata verarbeitet und überwindet. Ihr<br />
Lebenswille und ihre Verachtung für den Tod. Der Film<br />
endet mit spielenden Kin<strong>der</strong>n, die sich sozusagen unter<br />
Beschuss halten. »Die, and you will be free«, ruft ein<br />
Junge. Ein Satz, mit dem er eine Spielregel bestätigt:<br />
Wenn du hinfällst, kannst du weiterspielen. Es ist ein<br />
Spiel, mehr nicht, aber diese paradoxen Worte können<br />
auch so übersetzt werden: Wenn du nicht loslässt, wovor<br />
du Angst hast, kommst du keinen Meter weiter.<br />
Joke: Da ist wie<strong>der</strong> die Ode an meine Narben, in <strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Autor den Dichter Khahlil Gibran zitiert:<br />
»Deine Kin<strong>der</strong> sind nicht deine Kin<strong>der</strong>. Sie sind die<br />
Söhne und Töchter <strong>der</strong> Sehnsucht des Lebens nach<br />
sich selbst.«<br />
Auch das ist eine Dualität, mit <strong>der</strong> alle Eltern und die<br />
gesamte Gesellschaft zurechtkommen müssen.<br />
Und schließlich ist da ein Zitat des schottischen Dichters<br />
John Glenday in einem Buch über die Arbeit <strong>der</strong><br />
amerikanischen Fotografin Sally Mann: »You see it’s<br />
neither pride nor gravity, but love that pulls us back<br />
down to the world.« Die Schwerkraft ist bei einem<br />
Tanzstück sehr entscheidend, und wenn man hochgehoben<br />
wird, kann man sich »wie ein Astronaut in<br />
einer Raumkapsel« bewegen – so hat es Zélie in Worte<br />
gefasst. Sie war es auch, die behauptete, dass es in<br />
promise me um Liebe geht ...<br />
Aus dem Nie<strong>der</strong>ländischen von Golbarg Zolfaghari<br />
Die Choreografin JOKE LAUREYNS hat Philosophie studiert. Der Tänzer und Choreograf<br />
KWINT MANSHOVEN studierte Design. Gemeinsam gründeten sie die Gruppe kabinet k in Gent<br />
(Belgien), mit <strong>der</strong> sie seit über 20 Jahren Tanztheaterstücke kreieren, in denen professionelle<br />
Tänzer:innen und Kin<strong>der</strong> zusammen auf <strong>der</strong> Bühne stehen.<br />
Foto: Kurt van <strong>der</strong> Elst (Joke Laureys und Kwinst Manshoven)<br />
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