Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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Lieber Julian, heute ist <strong>der</strong> 14. März <strong>2022</strong>, Tag 19 eines<br />
in Europa geführten Krieges, dessen Ausbruch wir uns<br />
nicht hatten vorstellen können. Der russische Präsident,<br />
Wladimir Putin, hat am 24. Februar <strong>2022</strong> seinen Truppen<br />
den Befehl für den Einmarsch in die Ukraine gegeben.<br />
Die Arbeit an deiner neuen Filminstallation EUPHORIA<br />
wurde jäh gestoppt. Ihr wart inmitten von Dreharbeiten<br />
in Kiew, als weltweit die Regierungen ihre Bürger:innen<br />
zum sofortigen Verlassen des Landes mahnten. Wenngleich<br />
EUPHORIA auf den ersten Blick inhaltlich nichts<br />
mit diesem Konflikt zu tun hat, lässt sich auf den zweiten<br />
Blick erkennen, wie verknüpft diese Arbeit mit den<br />
gegenwärtigen Ereignissen ist – in einer Weise, in <strong>der</strong> es<br />
zu Beginn des Projektes kaum voraussehbar gewesen<br />
sein dürfte. Doch fangen wir von vorne an. Erste konzeptionelle<br />
Gedanken hattest du bereits 2013. Was war<br />
<strong>der</strong> Impuls für diese Arbeit?<br />
Fragen zur Initialzündung meiner Projekte fallen mir immer<br />
schwer zu beantworten. Meist gehen ihnen lange<br />
Prozesse voraus, Recherchen, Verlinkungen zu an<strong>der</strong>en<br />
Projektentwürfen. Bevor sich eine Idee tatsächlich konkret<br />
formuliert, ist meist viel Zeit vergangen. Allgemein<br />
lässt sich vielleicht sagen, dass ich mich in <strong>der</strong> künstlerischen<br />
Arbeit meinen Wissenslücken stelle. Ich benutze<br />
sie, um mir Themenkomplexe zu erschließen, die Fragen<br />
in mir auslösen o<strong>der</strong> über die ich schlichtweg zu wenig<br />
weiß. Die Ökonomie, zum Beispiel, war immer eine große<br />
Grauzone. Ich gehörte zu denjenigen, die den Wirtschaftsteil<br />
<strong>der</strong> Tageszeitung überblätterten, da er mir<br />
unverständlich war und das, worüber darin geschrieben<br />
wurde, undurchdringlich und suspekt erschien. Doch<br />
die Gesetze <strong>der</strong> Wirtschaft gestalten essenziell die Welt,<br />
in <strong>der</strong> wir leben, daher wollte ich mich <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Ökonomie<br />
auf Dauer nicht verschließen. Ich habe mir dann<br />
zunächst Basiswissen angeeignet und die Grundlagen<br />
<strong>der</strong> Wirtschaftsgeschichte gelesen. Parallel dazu begann<br />
ich, eine Form zu suchen, die es mir erlaubt, sich<br />
mit den doch eher trockenen Wirtschaftstheorien auf<br />
sinnliche Weise auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Wie auch in Manifesto,<br />
Meine Heimat ist ein düsteres, wolkenverhangenes<br />
Land o<strong>der</strong> American Night gehört es seit vielen<br />
Jahren zu meiner Methode, mit vorhandenem Textmaterial<br />
zu arbeiten, das ich zerschneide, collagiere, editiere<br />
und daraus neue Texte herstelle, die ich dann in unsere<br />
Zeit transferiere und untersuche, inwieweit historisches<br />
Material o<strong>der</strong> Gegenwärtiges aus an<strong>der</strong>en Kontexten<br />
für das Heute sinnstiftend o<strong>der</strong> relevant sein können.<br />
ALLGEMEIN LÄSST<br />
SICH VIELLEICHT<br />
SAGEN, DASS<br />
ICH MICH IN DER<br />
KÜNSTLERISCHEN<br />
ARBEIT MEINEN<br />
WISSENSLÜCKEN<br />
STELLE<br />
Folgst du bei <strong>der</strong> Montage vorhandenen Materials bestimmten<br />
Kriterien? Du zwingst unterschiedliche, teils<br />
wi<strong>der</strong>sprüchliche Positionen in deinen Texten zusammen,<br />
sodass man als Zuhörer:in sehr wach sein muss.<br />
Ich recherchiere sehr breitgefächert, lese alle möglichen<br />
Texte rund um das jeweilige Thema aus verschiedenen<br />
Zeiten und Perspektiven – ob es sich nun um<br />
deutsche Geschichte, den Gründungsmythos Nordamerikas,<br />
um Künstlermanifeste o<strong>der</strong> in diesem Fall<br />
um Ökonomie handelt. Mich interessiert es, wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />
Stimmen aufeinan<strong>der</strong>prallen zu lassen. In<br />
EUPHORIA zum Beispiel entfalten sowohl die Positionen<br />
<strong>der</strong> neoliberalen Marktwirtschaft ihre Verführung und<br />
Überzeugungskraft als auch die ihrer Kritiker.<br />
Deine Unternehmung, den Kapitalismus zu fassen, ist eigentlich<br />
unmöglich, zum Scheitern verurteilt. Dieses »System«<br />
hat etwas Verschlingendes, auch die Kapitalismuskritik verleibt<br />
es ihm ein. Die eigene Position bekommt man zudem<br />
kaum in den Blick, weil man selbst Teil davon ist. Die neoliberale<br />
Marktwirtschaft <strong>der</strong> letzten Jahrzehnte ist enorm<br />
erfolgreich, obwohl die zerstörerische Wirkung auf Umwelt<br />
und sozialen Zusammenhalt längst offen zutage liegt. Hast<br />
du Antworten in deinem Arbeiten darauf gefunden, warum<br />
dieses System noch immer so populär ist?<br />
Du hast recht. Der Kapitalismus bzw. die radikalisierte<br />
Form davon – die entfesselte, neoliberale Marktwirtschaft<br />
– hat auch die Kritik daran längst absorbiert und<br />
instrumentalisiert. Dieses System ist bis heute so erfolgreich<br />
und, abgesehen vom gescheiterten Experiment<br />
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