Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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und <strong>der</strong> Welt, und wie dieser Wandel die Lebensrealität<br />
<strong>der</strong> Menschen beeinflusst. Unsere Arbeitsweise<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass wir viele situative<br />
Momente drehen, begleiten, genau hinsehen und zuhören.<br />
So versuchen wir stets, den Dingen von ihrem<br />
Wesen her näherzukommen. Die Gegenwart ist ohne<br />
das Bewusstsein über die Vergangenheit nicht denkbar.<br />
Die Frage, ob die Zukunft besser sein wird als die<br />
Gegenwart, gehört ins Reich <strong>der</strong> Spekulation. »Besser<br />
als etwas sein« ist eine Bewertung – wir versuchen,<br />
nicht zu werten …<br />
Lagartijas tiradas al sol: Worauf können die Menschen in<br />
<strong>der</strong> Region stolz sein?<br />
loenkenfranke: Die Menschen in <strong>der</strong> Region haben in<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit ungeheure Umbrüche gemeistert<br />
und sind gegenwärtig wie<strong>der</strong> mit einer großen Transformation<br />
konfrontiert. Kollektiver Stolz hat immer<br />
auch mit Identität zu tun. Hier in <strong>der</strong> Region wurde diese<br />
Identität maßgeblich durch ihre gemeinsame Arbeit<br />
in <strong>der</strong> Großindustrie geprägt. Wir glauben allerdings an<br />
das Individuum. Kollektiver Stolz einer ganzen Gesellschaft<br />
hat für uns einen Beigeschmack.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Wo sind die Minen geblieben?<br />
loenkenfranke: Die Minen sind, wo sie sind, nämlich<br />
hun<strong>der</strong>te Meter unter <strong>der</strong> Erdoberfläche. Aber ihre Bedeutung<br />
für die Menschen hat sich grundlegend geän<strong>der</strong>t.<br />
Sie dienen nicht mehr dazu, den Menschen in<br />
<strong>der</strong> Region einen (hohen) Lebensstandard zu sichern,<br />
son<strong>der</strong>n die Menschen müssen sich um ihre Folgen als<br />
Ewigkeitsschäden kümmern.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Wie geht man mit dem Gefühl um,<br />
dass das Leben woan<strong>der</strong>s stattfindet?<br />
loenkenfranke: Das Leben findet immer im Hier und<br />
Jetzt und in <strong>der</strong> Kunst statt. Das, was uns originär interessiert,<br />
ist, Momente und Augenblicke festzuhalten,<br />
sie zu archivieren und sie in Beziehung zueinan<strong>der</strong><br />
zu bringen. So entstehen Filme, die ein Stück Zeitgeschichte<br />
sind und immer nur im Moment ihrer Rezeption<br />
im Verhältnis zur Gegenwart Bedeutung und Sinn<br />
ergeben. Große Umbrüche, die immer einhergehen mit<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung. Zeitenwende, Wandel, Verschwinden.<br />
Neue Möglichkeiten tun sich auf, mit ihnen neue<br />
Identifikationen – alte brechen weg. In einer Zeit, in<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Alltag immer digitaler wird, in <strong>der</strong> alles je<strong>der</strong>zeit<br />
online verfügbar ist, in <strong>der</strong> das Internet alle Fragen<br />
zu beantworten scheint, entsteht die Sehnsucht nach<br />
einer alternativen Realität. Offensichtlich eröffnet die<br />
Hinwendung zur Natur (die es ja im ursprünglichen<br />
Sinn in unseren Breiten gar nicht mehr gibt) für viele<br />
Menschen aktuell den Zugang zu dieser alternativen<br />
Realität. Beim Wege- Projekt haben wir uns aus diesem<br />
Grund für den ornithologischen Blick entschieden.<br />
Ganz allein mit sich und <strong>der</strong> Natur lässt <strong>der</strong> Blick<br />
durch das Fernglas o<strong>der</strong> Spektiv die Welt klein und<br />
übersichtlich erscheinen. Ein geeigneter Zufluchtsort,<br />
um den Herausfor<strong>der</strong>ungen und Einschränkungen des<br />
Alltags zu begegnen – und ihnen etwas entgegenzusetzen.<br />
Dadurch wird <strong>der</strong> Blick auf das Wesen des<br />
Menschen geschärft, auf seine Eigenarten, seine Träume<br />
und Ängste. Und damit zu einem Indikator für den<br />
Zustand <strong>der</strong> Gesellschaft. Unweigerlich wird man mit<br />
dem konfrontiert, was das Menschsein ausmacht.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Wie Fortschritt denken in einer<br />
Region, die selbst vergessen wurde?<br />
loenkenfranke: Unseren letzten Film haben wir mit<br />
einem Gedicht von Andreas Gryphius begonnen:<br />
Alles ist eitel (1640)<br />
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.<br />
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:<br />
Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,<br />
Auf <strong>der</strong> ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.<br />
Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.<br />
Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein,<br />
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.<br />
Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.<br />
Wandel als ein nie enden<strong>der</strong> Prozess. Ihn nicht als<br />
Grundlage allen Denkens zu akzeptieren, käme einer<br />
Hybris gleich.<br />
Aus dem Englischen und Deutschen von Cornelia Enger<br />
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