Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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mus sein, dass man die Formen des Realen anruft, die die<br />
Realität, die <strong>der</strong> Kapitalismus uns gegenüber präsentiert,<br />
zugrunde liegen.«<br />
Klingt nachvollziehbar und sinnvoll. Doch dann bricht die<br />
Covid-Pandemie aus und verschiebt den ganzen Diskurs.<br />
Infragestellungen <strong>der</strong> Realität und Bloßstellungen von<br />
Machtzentren, Biopolitik und kritische Lektüre sind plötzlich<br />
nicht mehr Domäne französischer Philosophen wie<br />
Baudrillard und Foucault, son<strong>der</strong>n Aussagen von esoterischen<br />
Rechtspopulist:innen aus Thüringen und völkischen<br />
Selektrionsanhänger:innen aus Baden-Württemberg. Ich<br />
merke, dass ein Diskurs nicht nur weggenommen, son<strong>der</strong>n<br />
zerstört wird, und dessen Konsequenzen noch weit nach<br />
dieser Pandemie zu spüren sein werden. Doch was tun?<br />
In ihrem Stück GUERRILLA hatten El Conde de Torrefiel<br />
die Lust am Umsturz, am Zerfall <strong>der</strong> Gesellschaft, an <strong>der</strong><br />
Unmöglichkeit <strong>der</strong> Verständigung schon thematisiert. Wie<br />
werden sie jetzt mit all diesen losen Fäden, angefangenen<br />
Gedanken und philosophischen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
umgehen? Als Vorbereitung auf das neue Stück machen<br />
sie erste Probebohrungen, ULTRAFICCIÓN 1–4. Auf dem<br />
Santarcangelo Festival läuft eine Schafherde durch das<br />
verwun<strong>der</strong>te Publikum in einer Open-Air-Aufführung, während<br />
kurz danach in einem Museum für Mo<strong>der</strong>ne Kunst<br />
Taubstumme eine Geschichte zeigen und in Barcelona Architekturstudierende<br />
ein Totem herstellen und gleich wie<strong>der</strong><br />
zerstören. Ich bin gespannt, bekomme es nicht mehr<br />
zusammen, kann auch nicht darüber schreiben, ich kann<br />
ja nur lesen:<br />
Du beschließt, dich ins Bett zu legen,<br />
nicht zu denken und in Stille zu verharren.<br />
Wegen <strong>der</strong> Stille hörst du deine Magengeräusche<br />
und spürst deinen Herzschlag.<br />
Du überlegst, dass die Substanz des Blutes, die dich am<br />
Leben erhält,<br />
das Begehren und die Ambition<br />
einer einzigen primitiven Zelle ist,<br />
die über Jahrmillionen, sich beständig transformierend<br />
und reproduzierend,<br />
in unzähligen Körpern gereist ist,<br />
damit genau diese einzelne primitive Zelle überleben kann.<br />
Diese einzelne primitive Zelle,<br />
die vor Millionen von Jahren entstand,<br />
wird nach deinem Tod in an<strong>der</strong>en Körpern überleben.<br />
Und die gleiche Zelle findet sich auch im Bettler,<br />
<strong>der</strong> dich auf <strong>der</strong> Straße um Geld bittet.<br />
Sie findet sich im Freund, den du täglich triffst,<br />
im Blinden, den du scheel anschaust,<br />
im Touristen, <strong>der</strong> deine Stadt besucht,<br />
im schlafenden Kind im Haus gegenüber,<br />
in <strong>der</strong> Mutter, die dir eines Tages diese Zelle übertrug.<br />
In all diesen anonymen Gesichtern,<br />
die dir täglich auf <strong>der</strong> Straße begegnen,<br />
bist du.<br />
Endlich kommt <strong>der</strong> Schlaf.<br />
Heute bist du aufgestanden und hast die Stadt durchquert,<br />
um im Theater das Finale eines Stücks zu sehen,<br />
das ein Jahr lang gedauert hat.<br />
Endlich schließen sich ganz langsam deine Augenli<strong>der</strong><br />
und du sinkst in einen tiefen Schlaf.<br />
Wie gut, dass <strong>der</strong> Schlaf die Tage voneinan<strong>der</strong> scheidet.<br />
Ich wache auf und gucke nach, was ich eigentlich am 22.<br />
Februar 2019, am Tag <strong>der</strong> Vorstellung von LA PLAZA, eingetragen<br />
habe. Ich erwarte etwas Gewichtiges, aber es ist<br />
leer. Ich blättere herum und finde im Juli ein schönes Zitat<br />
von Eva Maria Keller: »7000 Gedanken hat je<strong>der</strong> Mensch<br />
pro Tag.« Aber welcher bleibt hängen?<br />
ALJOSCHA BEGRICH, liest seit 1983, arbeitete das erste Mal als Assistent und<br />
Dolmetscher 2000 bei La Fura dels Baus in Castelldefels, Barcelona. Seit<br />
2021 Dramaturg bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Foto: Mario Zamora (El Conde de Torrefiel)<br />
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