FREUDE ALS FORM DES WIDERSTANDS MATS STAUB IM GESPRÄCH MIT METTE INGVARTSEN TO COME (EXTENDED) Mette Ingvartsen Tanz ab 10. September <strong>2022</strong> Siehe S. 64 _______________ www.ruhr3.com/come 196
Mats Staub: Es gibt nur sehr wenige Stücke, die mich auch Jahre später noch die Emotionen verspüren lassen, die sie in mir hervorgerufen haben – ich sah to come (extended) am 31. März 2018 in Berlin, und ich erinnere mich gut an das anschließende Gefühl des Staunens. Ja, ich war schlichtweg von Freude erfüllt. Du hast dich im Rahmen mehrerer Projekte zwischen 2014 und 2017 mit Sexualität befasst. Spielte <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Freude auch bei to come (extended) eine Rolle? Mette Ingvartsen: Ich empfand Freude damals als etwas, was von grundlegen<strong>der</strong> Bedeutung für uns ist. Im Laufe <strong>der</strong> Arbeit an diesem Projekt nahm die #MeToo- Bewegung allmählich an Fahrt auf; als mein Entschluss zu dieser Arbeit fiel, gab es sie noch gar nicht. Die Relationen zwischen Sexualität und politischen Begebenheiten in unserer Gesellschaft, Machtstrukturen und auch Machtmissbrauch offenbarten sich deutlich. Ich arbeitete damals an zwei Projekten. 21 pornographies betrachtet die Fragestellungen um Macht und Missbrauch und die Art und Weise, wie bereits bestehende Strukturen unser Empfinden von Intimität und Sexualität dominieren. Zur selben Zeit nahm ich die Arbeit an to come (extended) auf, das einen eher spielerischen Ansatz verfolgt und zum Imaginieren von Formen <strong>der</strong> Sexualität einlädt, die in <strong>der</strong> realen Welt möglicherweise noch nicht existieren. Das letzte Segment dieses Stücks widmet sich dem Gesellschaftstanz Lindy Hop, <strong>der</strong> in den 1930er-Jahren in den Schwarzen-Communitys <strong>der</strong> USA entstand und im Laufe <strong>der</strong> Zeit von vielen unterschiedlichen Menschen über Kontinente hinweg getanzt wurde. Es handelt sich um einen energiegeladenen Tanzstil, bei dem viel gesprungen wird. Es versetzt den Körper <strong>der</strong> Tanzenden also in einen fröhlichen Zustand. Ich empfinde Freude als eine Form des Wi<strong>der</strong>stands gegen die allgemeine Unterdrückung des Körpers sowie <strong>der</strong> Freude und <strong>der</strong> Lust. Und ich empfinde sie als eine Art feministische Strategie, sich nicht in die Opferrolle zu begeben, neuartige Ansätze zuzulassen, die Dinge an<strong>der</strong>s anzugehen und sich (zumindest vorübergehend) aus gewissen repressiven Gesellschaftsstrukturen zu lösen. MS: Sexualität ist von so vielen Problemen umgeben, dass ein Fokus auf Freude und Empowerment keineswegs einfach ist. Es bedarf meiner Meinung nach einer Offenheit, die nur in einem geschützten Rahmen möglich ist. Im ersten Teil von to come (extended) tragen die 15 Tänzer:innen blaue Ganzkörperanzüge. Das erinnerte mich daran, dass die ehrlichen Unterhaltungen, die ich im Vorfeld von Intime Revolution führen durfte, nur möglich waren, weil alle Gesprächsteilnehmenden die Gewissheit hatten, dass ihre Berichterstattungen vollständig anonym bleiben würden. MI: Wenn man innerhalb einer großen Gruppe mit sexuellem Material arbeitet, muss man sehr offen eingestellt und dem Gegenüber zugewandt sein; gleichzeitig muss ein klarer Rahmen abgesteckt werden, wie man verfahren möchte. Wir haben intensiv über die Gestaltung eines geschützten Arbeitsumfelds gesprochen. Natürlich kommt man sich bei Themen wie Intimität und Sexualität sehr nah. Obwohl wir also blaue Ganzkörperanzüge tragen und unsere Körper vollständig von Stoff bedeckt sind, gibt es doch ausgesprochen intime Situationen, in denen sich alle wohlfühlen müssen. Wir haben versucht, einen fantasievollen Ansatz zu verfolgen, bei dem jede:r jede Position einnehmen und sich somit von dem eigenen Geschlecht befreien kann. Durch den blauen Anzug entsteht tatsächlich eine gewisse Anonymität, die sehr befreiend wirkt. Man muss sich keine Gedanken darüber machen, wen man berührt o<strong>der</strong> von wem man berührt wird. Darüber hinaus entsteht eine Nähe, die man im nackten Zustand eventuell als unangenehm empfinden würde. Die blauen Anzüge ermöglichen zudem einen skulpturalen Ausdruck körperlicher Verbindungen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Öffentlichkeit normalerweise nicht so leicht umzusetzen ist. Unser Projekt über die Freude fußt auf sexuellem Material und dem spielerischen Umgang damit, <strong>der</strong> es den Körpern erlaubt, jedwede Position einzunehmen, ohne dass man sich dabei als Mann o<strong>der</strong> als Frau begreifen müsste – als männlich, weiblich, nichtbinär o<strong>der</strong> als was auch immer man sich im realen Leben identifizieren würde. Innerhalb des Projekts kann man damit spielen und sich nach den eigenen Wünschen neu erfinden. Und ich denke, das war ein tolles Erlebnis für die Gruppe. MS: Der mittlere Teil macht auch Spaß. Die Performer:innen stehen nackt beieinan<strong>der</strong> und stöhnen gemeinsam – doch es ist nicht ihr individuelles Stöhnen, son<strong>der</strong>n sie imitieren die über Kopfhörer vermittelten Geräusche eines nahenden Orgasmus. MI: Ja, wir nennen das den »Orgasmus-Chor«, es ist eine Art multipler Orgasmus, <strong>der</strong> über vier o<strong>der</strong> fünf Minuten lang andauert. Darüber haben wir herausgefunden, dass Orgasmen sich in unterschiedlichen Län<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>s anhören. Im Westen gibt es eine ähnliche 197
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