Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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In all euren Auftritten schafft ihr eine Utopie als Reaktion<br />
auf die reale Welt. Ihr nennt es oft einen Freiraum. Einen<br />
Ort des Vertrauens.<br />
Joke: Ja. Utopisch und idealistisch, aber auch eine<br />
Gegenstimme, ein Kontrapunkt. Wir streben natürlich<br />
nach dem Ideal <strong>der</strong> bestmöglichen Aufführung. Wir<br />
suchen eine radikale Ehrlichkeit, wenn es um die Vielschichtigkeit<br />
des Menschseins geht. Nicht, dass wir<br />
die Dinge rosiger machen wollen. Im Gegenteil. Harmonie<br />
steht bei dieser Aufführung nicht auf <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />
Kwint: Sicherlich nicht in promise me, wo es oft rau<br />
und roh zugeht. Es herrscht eine brutale Intimität. Weniger<br />
weich und vielschichtiger als bei horses. Denn wir<br />
beleuchten eine an<strong>der</strong>e, gefährlichere Seite menschlicher<br />
Beziehungen.<br />
WIR SUCHEN EINE<br />
RADIKALE EHRLICHKEIT,<br />
WENN ES UM DIE<br />
VIELSCHICHTIGKEIT DES<br />
MENSCHSEINS GEHT […]<br />
HARMONIE STEHT BEI<br />
DIESER AUFFÜHRUNG<br />
NICHT AUF DER<br />
TAGESORDNUNG.<br />
Joke: Das erste Wort, mit dem wir bei diesem Stück<br />
hantierten, war »rücksichtslos«. Aber das deckt nicht<br />
alles ab. Deshalb war ich so froh, als wir auf den Text<br />
Ode an meine Narben des flämischen Autors David<br />
Van Reybrouck stießen. Er schreibt:<br />
»Nein, das ist nicht das richtige Wort, rücksichtslos.<br />
Was aber dann? Begeisterung, Glühen. Ja, man muss<br />
mit seinem Leib haushalten, aber deshalb muss man<br />
doch nicht mit dem Leben sparsam sein?«<br />
Das ist es für mich.<br />
»Sieben Tänzer:innen schließen einen Pakt« lautet eine<br />
Zeile auf dem Produktionsflyer. Was ist das für ein Pakt?<br />
Joke: Die Beziehung zwischen den Tänzer:innen entwickelte<br />
sich im Laufe des kreativen Prozesses zu einem<br />
absoluten Vertrauensverhältnis. Du schenkst Vertrauen<br />
und du bekommst es zurück. Das bewirkt, dass alle<br />
einan<strong>der</strong> so gut kennen, dass alle Grenzen aufgehoben<br />
sind, jede Zurückhaltung verschwindet. Solch einen<br />
Pakt wollen wir als Macher:innen immer initiieren. Oft<br />
»greift« ein solcher Pakt, und das war sicherlich bei den<br />
Darsteller:innen von promise me <strong>der</strong> Fall, aber das geschieht<br />
nicht immer. Das kannst du nicht erzwingen.<br />
Dieser Pakt des Vertrauens ist wie ein Grundton. Über<br />
Kwint sagen die Kin<strong>der</strong> beispielsweise: »Wir kennen<br />
deine Hände.« Das ist die physische Übersetzung dieses<br />
Vertrauens. Es ist die Basis, von <strong>der</strong> aus man den<br />
Grad <strong>der</strong> Hingabe, des Kümmerns, <strong>der</strong> Intimität und <strong>der</strong><br />
Stärke eines:einer jeden ablesen kann. Wenn man sich<br />
ein Duett zwischen Kwint und Ilena, Lili und Zélie o<strong>der</strong><br />
Juliette und Ido anschaut, dann sieht man stets sowohl<br />
die spezifische Dynamik zwischen zwei Tänzer:innen<br />
als auch die individuellen Eigenheiten jedes:je<strong>der</strong> Tanzenden.<br />
Man kann sehen, was sie ineinan<strong>der</strong> erwecken,<br />
und ihre Charaktere lesen durch die Art und Weise, wie<br />
sie miteinan<strong>der</strong> umgehen. Diese immerwährende Synergie<br />
generiert wun<strong>der</strong>schöne Bil<strong>der</strong>. Das ist reich.<br />
Nicht eindeutig.<br />
Kwint: In dem gegenseitigen Vertrauen zwischen diesen<br />
sieben Menschen auf <strong>der</strong> Bühne schlummert eine<br />
Dualität. Eine Vielschichtigkeit. Und das Medium Tanz<br />
eignet sich hervorragend, das sichtbar zu machen.<br />
Der Ausdruck »Dualität« taucht oft auf, wenn es um eure<br />
Arbeit geht. Könnt ihr diesen Begriff erklären?<br />
Joke: Alles hat eine Kehrseite – das ist eine Tatsache.<br />
Neben dem Wort »Lebensdrang«, das während<br />
des Entstehungsprozesses auftauchte, fiel auch das<br />
Wort »Todesverachtung«. Dem Tod die Zunge herausstrecken.<br />
Hinter dieser kindlichen Geste verbirgt sich<br />
eine tiefe Wahrheit. Jede:r erkennt die Endlichkeit,<br />
die Schwere, die Schwärze, die B-Seite des Lebens.<br />
Aber man kann sich auf unterschiedliche Weise darauf<br />
beziehen. Diese Tatsache kann dir Kraft geben<br />
und dich verwundbar machen. Gleichzeitig. Es ist kein<br />
Entwe<strong>der</strong>-o<strong>der</strong>. Nicht schwarz-weiß. Sehr oft suchen<br />
die Menschen nach einer vorgefertigten Antwort. Die<br />
Menschen for<strong>der</strong>n Klarheit. Es ist so und nicht an<strong>der</strong>s.<br />
Und dann entstehen Lager, Polemik, Slogans,<br />
Polarisierung, Identitätsschwierigkeiten. Während es<br />
nur Nuancen gibt. In <strong>der</strong> Realität und auch in einem<br />
Körper.<br />
Kwint: Es gibt die großen, trainierten Körper <strong>der</strong> erwachsenen<br />
Tänzer:innen und die kleineren, untrainierten<br />
Körper <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Dies ist an sich schon eine<br />
duale Gegebenheit. Erwachsene und Kin<strong>der</strong> können<br />
dieselbe Bewegung mit <strong>der</strong>selben Absicht ausführen<br />
und doch sind sie an<strong>der</strong>s. Und für die Tänzer:innen<br />
fühlt es sich auch an<strong>der</strong>s an.<br />
DIESER PAKT DES<br />
VERTRAUENS IST WIE<br />
EIN GRUNDTON.<br />
Joke: Und doch müssen Erwachsene und Kin<strong>der</strong> ein<br />
Gleichgewicht in <strong>der</strong> Schwerkraft finden. »Kippen« ist<br />
ein wesentliches Wort im Vokabular von promise me,<br />
ein Wort, das die Bewegungssprache stark beeinflusst<br />
hat. Aber es ist nicht so, dass man die Tänzer:innen<br />
buchstäblich kippen sieht. Es deutet vielmehr auf eine<br />
Absicht hin. Im Sinne von: sich trauen, in <strong>der</strong> Mitte<br />
von Dingen zu stehen. Nicht auszuweichen, nicht zu<br />
fliehen, son<strong>der</strong>n die Mittellinie beschreiten. Taumelnd,<br />
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