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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Das Gefühl <strong>der</strong> Überwältigung wird bisweilen zu einem<br />

geradezu körperlichen Erlebnis, hinter dem sich eine<br />

metaphysische Dimension auftut – und um diese scheint<br />

es <strong>der</strong> Komponistin zu gehen. Der Schmerz, <strong>der</strong> in die<br />

wie<strong>der</strong>holten Faustschläge auf das Klavier und die brachialen<br />

Paukenschläge eingeschrieben ist, evoziert in <strong>der</strong><br />

3. Sinfonie Gedanken an Selbstkasteiung und Selbsterniedrigung<br />

angesichts <strong>der</strong> höchsten, rettenden Macht, die<br />

sie im Text anruft. Es ist, als würde im Schmerz <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Realität gefangene Körper zum Fluchtweg in eine überkörperliche,<br />

sublimierte – o<strong>der</strong> eben metaphysische Sphäre.<br />

Iannis Xenakis<br />

Dass auch die physische Welt mit all ihren Gesetzmäßigkeiten<br />

mehr als nur eine Fessel sein kann, die uns in <strong>der</strong><br />

irdischen Realität verhaftet hält, hat ein Komponist bewiesen,<br />

<strong>der</strong> Schmerz ebenso kannte wie Galina Ustwolskaja.<br />

Als politischer Flüchtling kam Iannis Xenakis mit<br />

schwerer Gesichtsverletzung 1947 in Paris an. In Griechenland<br />

hatte er im Wi<strong>der</strong>stand gegen die Okkupation<br />

durch die Deutschen gekämpft, war verwundet worden,<br />

im Gefängnis gesessen, zum Tode verurteilt. Im Pariser<br />

Exil fand er in seinem erlernten Beruf als Architekt und<br />

Ingenieur im Atelier von Le Corbusier Anstellung. Komponiert<br />

hatte er bis dahin nur autodidaktisch, um nun aber<br />

das Handwerk systematisch zu erlernen. Seine naturwissenschaftlich<br />

geprägte Biografie hatte ihn mit einer<br />

Denkstruktur ausgestattet, die in Komponistenkreisen zunächst<br />

fremd anmutete. Ausgerechnet Olivier Messiaen,<br />

musikalisches Sprachrohr <strong>der</strong> christlichen Mysterien, erkannte<br />

das Potenzial in <strong>der</strong> Voraussetzung seines Schülers<br />

und ermutigte ihn, exakt dieses Denken und Wissen<br />

für seine Musik kreativ zu nutzen. Das Resultat: eine in<br />

<strong>der</strong> Musikgeschichte einzigartige, fulminante Stimme, die<br />

über ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t zahllose Konventionen (auch<br />

die eigenen) produktiv in Frage gestellt hat und für zahllose<br />

Komponist:innen ein Quell <strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung und Inspiration<br />

wurde.<br />

Die Werke seines umfangreichen Oeuvres beziehen sich<br />

nahezu ausnahmslos auf mathematische o<strong>der</strong> physikalische<br />

Gesetze und Phänomene wie Stochastik, Spieltheorie,<br />

Mengentheorie, Chaostheorie o<strong>der</strong> Siebtheorie.<br />

Letztere liegt auch seinem Ensemblestück Thalleïn zugrunde.<br />

Die ungestüm rohe Kraft seiner glissandostarken,<br />

gestischen Musik deutet an, dass hinter diesen scheinbar<br />

kühl analytischen Vorgängen emotional prägende<br />

Erinnerungen stecken, die für einen musikalischen Ausdruckswillen<br />

ausschlaggebend sind, und folge die Komposition<br />

auch noch so abstrakten Prinzipien. So lieferte<br />

ihm etwa das konkrete Erlebnis <strong>der</strong> Demonstrationen und<br />

Straßenschlachten die gedankliche Substanz zu seinem<br />

mathematisch streng durchkalkulierten Durchbruchsstück<br />

Metastaseis (im Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021).<br />

»Ich hörte den Klang <strong>der</strong> Massen, wie sie auf das Zentrum<br />

Athens zumarschierten, die Parolenrufe, und dann, als sie<br />

auf die Panzer <strong>der</strong> Nazis trafen, die unregelmäßigen Schüsse<br />

<strong>der</strong> Maschinengewehre, das Chaos«, schil<strong>der</strong>te er dem<br />

Musikverleger Bálint András Varga in einem Gespräch.<br />

»Ich werde niemals diese Verwandlung des regelmäßigen,<br />

rhythmischen Lärms hun<strong>der</strong>ttausen<strong>der</strong> Menschen<br />

in ein fantastisches Durcheinan<strong>der</strong> vergessen... Nie hätte<br />

ich gedacht, dass das alles eines Tages wie<strong>der</strong> hochkommen<br />

und zu Musik werden würde.« In diesem Wissen erscheinen<br />

auch die sumerischen und assyrischen Silben<br />

und Phoneme in seinem Chorstück Nuits als direkte, klar<br />

artikulierte Schreie <strong>der</strong> Widmungsträger dieses Nachtstücks:<br />

politischer Gefangener dieser Welt, wie Xenakis<br />

selbst einer war, denen die Stimme geraubt wurde.<br />

So wie die Kriegserlebnisse hatten sich aber auch Natureindrücke<br />

aus Vorkriegszeiten in sein Bewusstsein eingraviert,<br />

wie er sich später in demselben Gespräch erinnert:<br />

»Ich machte oft Ausflüge aufs Land in <strong>der</strong> Nähe<br />

von Athen. Ich nahm dann mein Fahrrad, suchte mir einen<br />

Ort aus, wo ich mein Zelt aufstellte, und hörte den Klängen<br />

<strong>der</strong> Natur zu. Zikaden zum Beispiel: Ihr Zirpen kam<br />

aus allen Richtungen und verän<strong>der</strong>te sich ständig. Auch<br />

das sind Massenklänge, verstehen Sie?« Paradoxerweise,<br />

aber auch faszinieren<strong>der</strong>weise, erlaubt ihm das Mittel,<br />

das ihn einschneidende Erfahrungen mathematisch systematisieren<br />

und analysieren lässt, auch ihre emotionale<br />

Gewalt deutlicher zum Vorschein zu bringen.<br />

Sarah Nemtsov<br />

Die Essenz einer Sache aus ihrem natürlichen Habitat<br />

herauszulösen und auf an<strong>der</strong>er Ebene sinnlich erfahrbar<br />

und tiefer verstehbar zu machen, ist eine Eigenschaft, die<br />

auch die Musik <strong>der</strong> Berliner Komponistin Sarah Nemtsov<br />

auszeichnet – wenn auch auf gänzlich an<strong>der</strong>e Weise. Den<br />

Impuls zu ihrem Ensemblestück MOOS gewann sie tatsächlich<br />

aus einem Naturphänomen, das oberflächlich<br />

jedem bekannt ist. Je<strong>der</strong> kennt das Gefühl, auf Moos zu<br />

gehen, wie es dem Fuß den festen Tritt auf dem Boden versagt,<br />

wie <strong>der</strong> luftig weiche Pflanzenteppich ein angenehm<br />

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