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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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schließen damit das meiste, das Wesentliche aus. Gleichungen<br />

schaffen Abwesenheiten, in das Fassbare kehren<br />

sie zurück als Gespenster.<br />

Das Bewusstsein des Menschen, wozu er fähig ist, im Guten<br />

wie im schlechten, nichts passt in eine Formel, in keine<br />

Evaluation, in keine Zahl. Das menschliche Wesen ist we<strong>der</strong><br />

mit Buchhaltung noch mit Rechnungsführung zu fassen,<br />

nicht mit ihren Instrumenten, nicht in den Prozessen, und<br />

alle, die glauben, das Controlling würde den Betrieb durch<br />

Kontrolle sicherer machen, sind gefährliche Phantasten.<br />

VORSTELLUNGEN,<br />

WIE WIR AUS DIESER<br />

TÖDLICHEN FALLE<br />

ENTRINNEN KÖNNEN, IN<br />

DIE UNS DIE MODERNE<br />

GESELLSCHAFT<br />

GEFÜHRT HAT, GIBT<br />

ES ZWAR, ABER AUCH<br />

DAS OKAPI UND DEN<br />

SCHNECKENKÖNIG<br />

GIBT ES, EINFACH SEHR<br />

SELTEN.<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche verursachen Spannung. Wenn diese zu groß<br />

wird, bricht jedes System. Dauerhaft kann es werden,<br />

wenn es über seine eigenen Grenzen hinausdenkt, wenn<br />

es seine Negation in die Perspektive nimmt, wenn es zur<br />

Kritik fähig bleibt und diese Kritik zur Grundlage seiner<br />

Entscheidungen macht.<br />

Viele unserer gesellschaftlichen Institutionen verfolgen<br />

einen an<strong>der</strong>en Zweck. Sie wollen Wi<strong>der</strong>sprüche nicht benennen,<br />

sie wollen sie verdecken. Und wenn das nicht gelingt,<br />

macht man sie wenigstens erträglich. Sollte gerade<br />

noch die ökonomische Logik uns vor allen Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />

retten, so flüchtet man sich jetzt übergangslos in die militärische.<br />

Aber vielleicht haben die beiden Logiken denselben<br />

Ursprung in <strong>der</strong> einen Logik, in jener des Krieges.<br />

Wir zerstören Städte, Staaten, wir zerstören das Klima, wir<br />

zerstören die natürlichen Lebensgrundlagen, wir führen<br />

Krieg gegen uns selbst.<br />

Einem beliebigen Bewusstsein das Wissen über die eigenen<br />

Defizite, Grenzen und Aporien zu tilgen, ist mit Aufwand<br />

verbunden. Menschen kennen verschiedene Strategien<br />

<strong>der</strong> Verleugnung und <strong>der</strong> Selbsttäuschung. Die Vorbedingung<br />

dazu ist <strong>der</strong> Instinkt für Brüche, für die schlechten<br />

Gerüche, wenn an einer Sache etwas faul ist. Menschen<br />

erkennen die Grenzen <strong>der</strong> eigenen Welt, die Inkohärenzen<br />

und die Paradoxien, sie wissen von <strong>der</strong> Endlichkeit <strong>der</strong><br />

Existenz, und sie stellen Fragen nach den ersten und nach<br />

den letzten Dingen.<br />

People always fight the last war. So heißt es in <strong>der</strong> englischen<br />

Redensart. Bedeutet sie, dass die Menschen die<br />

gegenwärtigen Konflikte an den geschichtlichen messen,<br />

an jenen, in denen sie schon eine Erfahrung gesammelt<br />

haben? Das würde einen Fehlschluss, aber gleichzeitig die<br />

Möglichkeit beweisen, aus <strong>der</strong> Geschichte vielleicht nicht<br />

zu lernen, aber immerhin Schlüsse zu ziehen.<br />

Wenn diese Redensart aber Blindheit für das Momentane<br />

und das Zukünftige bedeutet, dann könnte man an keine<br />

Politik glauben, nur noch an den Zufall, das Schicksal o<strong>der</strong><br />

die Vorsehung, auf Größen, die jenseits <strong>der</strong> menschlichen<br />

Einflussnahme stehen.<br />

Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Und wir wissen<br />

genau, was mit uns geschieht. Beide Sätze sind wahr. Sie<br />

beschreiben keinen Wi<strong>der</strong>spruch, sie beschreiben einen<br />

Zusammenhang. Die Natur des Menschen lässt sich nur in<br />

diesem Zusammenhang darstellen. Und Literatur ist nichts<br />

an<strong>der</strong>es, versucht nichts an<strong>der</strong>es. Wann immer Menschen<br />

geschrieben haben, haben sie über die eigene Unzulänglichkeit<br />

nachgedacht, über die Grenzenlosigkeit des Gedankens<br />

in <strong>der</strong> Beschränktheit des eigenen Daseins.<br />

In <strong>der</strong> Kunst, so steht irgendwo, sei nichts ohne sein Gegenteil<br />

wahr. Wer findet eine bessere Beschreibung für die<br />

Größe, für die Fürchterlichkeit, für die Macht und die Hilflosigkeit,<br />

für die Natur des Menschen?<br />

LUKAS BÄRFUSS, geboren in Thun (Schweiz), Dramatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet<br />

mit zahlreichen Preisen, u.a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, ist Kurator und Gastgeber<br />

<strong>der</strong> musikalischen Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen, die wir in dieser<br />

Festivalausgabe zu den Themen Natur und Propaganda, Natur und Demokratie und Natur<br />

und Bewusstsein fortsetzen. Sie stellt sich die Fragen <strong>der</strong> doppelten Lesbarkeit ihres<br />

Titels: »Was ist das Wesen des Menschen?« und »Mit welchem Begriff <strong>der</strong> Natur operiert<br />

<strong>der</strong> Mensch eigentlich in den gegenwärtigen Diskussionen?«<br />

Dieser Artikel für das Magazin entstand Anfang März <strong>2022</strong>.<br />

Fotos: Claudia Herzog (Lukas Bärfuss)<br />

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