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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Moos: Er reguliert Lautstärke und Verfremdung <strong>der</strong> Verstärkung,<br />

schlägt selbst auf seinen Instrumenten jedoch keinen<br />

Ton an.<br />

Zugleich greift Nemtsov die scheinbar unzerstörbare und<br />

kaum nachvollziehbare Wucherstruktur von Moos auf an<strong>der</strong>er<br />

Ebene auf: »Kompositorisch sind verschiedene musikalische<br />

Elemente horizontal verwoben, momentweise<br />

vertikal ›zertreten‹, werden entwickelt und wie<strong>der</strong> vergessen«,<br />

beschreibt sie die Struktur ihrer Komposition und<br />

lässt darin das Prinzip Überleben durch Vergessen anklingen<br />

– eine Gnade, zu <strong>der</strong> nicht nur Moos, son<strong>der</strong>n auch<br />

das menschliche Gehirn in <strong>der</strong> Lage ist.<br />

instabiles, fast märchenhaftes Gefühl hervorruft. Sarah<br />

Nemtsov hat das Gewächs von Nahem betrachtet. Aus<br />

<strong>der</strong> scheinbar chaotischen Verästelung, die sich horizontal<br />

nach allen Seiten ausbreitet, hat sie für ihre Komposition<br />

ein System abgeleitet, bei dem die Schlaginstrumente<br />

reine Resonatorenfunktion haben. Durch sie erklingen die<br />

Instrumente des Ensembles, <strong>der</strong>en Klang durch Mikrofone<br />

abgenommen und über Transducer an sie übertragen wird.<br />

Das indirekte Spiel des Schlagzeugers gleicht dem Gang auf<br />

Immer wie<strong>der</strong> und in unterschiedlichsten Kontexten übersetzt<br />

Sarah Nemtsov ein System auf ein an<strong>der</strong>es: ein<br />

verbales auf ein musikalisches, ein organisches auf ein<br />

künstliches, ein psychisches auf ein akustisches. Und<br />

so wie sie 2012 in ihrem instrumentalen Musiktheater<br />

A Long Way Away Geschichten über Erinnerung von Marcel<br />

Proust, W. G. Sebald, Walter Benjamin und Mirko Bonnés<br />

ohne Worte, nur durch Instrumente und den Klang von<br />

Alltagsgegenständen erzählte, sodass man meint, man<br />

hätte die Geschichten gehört, geradezu in ihnen gelebt,<br />

beschreibt sie gemeinsam mit <strong>der</strong> Regisseur:in Heinrich<br />

Horwitz in ihrem inszenierten Instrumentalzyklus HAUS<br />

durch die Bochumer Turbinenhalle hindurch den Prozess<br />

des sich verwandelnden Transkörpers. Wer o<strong>der</strong> was ermöglicht<br />

ihr, allein kraft ihrer Musik den Verwandlungsprozess<br />

eines Körpers durch ein altes Industriegebäude<br />

hindurch erlebbar zu machen, wenn nicht das Vertrauen<br />

in die Macht <strong>der</strong> Imagination? Das Haus <strong>der</strong> Imagination<br />

ist das Gehirn, das mit Sicherheit metaphysischste Organ<br />

innerhalb <strong>der</strong> menschlichen Physik.<br />

BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–23. Als Autorin und Mo<strong>der</strong>atorin im Bereich Neuer<br />

Musik ist sie seit vielen Jahren für den Deutschlandfunk und die verschiedenen<br />

Programme des ARD-Hörfunks tätig. 2018–2020 war sie Dramaturgin<br />

für Oper und Konzert an <strong>der</strong> Staatsoper Stuttgart.<br />

Fotos: Gérard Grisey Estate (Gérard Grisey), Malcolm Ball (Olivier Messiaen), Ralph Fassey (Iannis Xenakis), Neda<br />

Navaee (Sarah Nemtsov)<br />

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