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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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JD: In einigen Werken provozierst du die Verschiebung<br />

richtiggehend: Zum Beispiel können die Stücke Zimmer I<br />

und Zimmer II entwe<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> o<strong>der</strong> gleichzeitig als<br />

Schichtung aufgeführt werden. Außerdem ergeben sich im<br />

installativen Teil zu Beginn des Abends zufällige Korrespondenzen<br />

zwischen den Soundstationen im Raum.<br />

SN: Die Schichtung interessiert mich als eine Art musikalische<br />

Metapher für unsere geschichtete Wirklichkeit,<br />

die Gleichzeitigkeit verschiedener Welten, das<br />

Virtuelle, Reale, Innere, Äußere, das Nebeneinan<strong>der</strong>,<br />

auch das Urbane. Kompositorisch entsteht da eine<br />

beson<strong>der</strong>e Form des Kontrapunkts.<br />

HAUS IST EIN FLUIDER<br />

KÖRPER, DER IN<br />

VERSCHIEDENEN<br />

FORMEN AUFTAUCHEN,<br />

SICH PRÄSENTIEREN<br />

UND WIEDER NEU<br />

ZUSAMMENGESETZT<br />

WERDEN KANN<br />

JD: In deinen Partituren sind den Stücken oft Textzitate<br />

vorangestellt, die nicht wörtlich auskomponiert<br />

sind. Vor Tür steht beispielsweise: »Je länger man vor<br />

einer Tür zögert, desto frem<strong>der</strong> wird man.« Franz Kafka<br />

SN: Die Texte begleiten mich in unterschiedlichen<br />

Intensitäten für den Zeitraum des Komponierens. Ihr<br />

Einfluss muss dann nachher aber gar nicht immer für<br />

das Publikum re-interpretierbar sein.<br />

Bestimmte literarische Figuren wie Virginia Woolf o<strong>der</strong><br />

Sylvia Plath sind schon lange wichtig für mich. Auch<br />

ihre Biografien als weibliche Künstlerinnen gehen mir<br />

nahe. Mich auf sie zu beziehen, war für mich, als ich<br />

den Zyklus vor zehn Jahren begonnen habe, auch ein<br />

feministischer Ansatz. Seither hat sich viel getan, ich<br />

habe viel dazugelernt und bin – auch durch die Begegnung<br />

mit Heinrich – viel aufmerksamer geworden<br />

für queere Positionen.<br />

HH: Wenn ich eine Choreografie entwickle, fange ich<br />

auch immer bei einem Textimpuls an o<strong>der</strong> bei Referenzen<br />

an<strong>der</strong>er Künstler:innen. Diese Ausgangspunkte<br />

verbinden sich für mich wie<strong>der</strong> in Richtung Improvisation<br />

und Begegnung. Auch in deinen Arbeiten empfinde<br />

ich die Textzitate nie als starre Definition o<strong>der</strong><br />

Programm. Im Gegenteil habe ich das Gefühl, dass du<br />

damit viele Assoziationsräume öffnest.<br />

JD: In diesem Musiktheater gibt es keine Sängerdarsteller:innen.<br />

In HAUS konzentriert sich die theatrale Performance<br />

auf die Instrumentalist:innen.<br />

HH: In meiner Regiearbeit interessieren mich die »unprofessionellen«<br />

Körper, weil sie durch sich selbst sprechen,<br />

in ihrer eigenen Form. Körper durchbrechen Zeit- und<br />

Raumachsen und das gibt ihnen das Potenzial, sich zu<br />

transformieren. Diese Haltung hat für mich viel mit Gen<strong>der</strong><br />

zu tun, denn ich suche nicht nach Zuschreibungen,<br />

son<strong>der</strong>n nach diversen Ausdrucksmöglichkeiten, die den<br />

Körper befähigen, sich von einem Habitus zu lösen.<br />

In HAUS werde ich choreografisch mit einer Art von<br />

Glitch (Anm. d. Red. »Fehler« o<strong>der</strong> »Makel«; ein im<br />

queer-feministischen Diskurs positiv aufgeladener Begriff)<br />

arbeiten. Ich frage mich, wo die Reibung in unser<br />

aller Körper ist, die Leerstelle, und wie man diese zu einer<br />

eigenen Sprache ermächtigen kann. Damit setzte ich<br />

mich auf eine Art auch mit den versehrten Maschinisten<br />

an den Turbinen auseinan<strong>der</strong>, von denen Henriette<br />

gesprochen hat: Menschen, die vielleicht nicht mehr voll<br />

funktionstüchtig waren, aber neue Bewegungsstrukturen<br />

erfunden haben. Diese Stärke will ich freilegen.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite interessiert mich das Kollektiv,<br />

das Ensemble, die Vereinheitlichung. Was teilen wir?<br />

Was ist Gemeinschaft? Eine Gemeinsamkeit? Wie<br />

können die Organismen sich vereinigen – wie vervielfältigen?<br />

In <strong>der</strong> Choreografie werden sie zu Protagonist:innen<br />

<strong>der</strong> Zukunft.<br />

JD: In deinem Artikel Alienation and Queer Discontent<br />

stellst du, Henriette, queere künstlerische Strategien vor,<br />

(hetero-)normative Zeitkonstruktionen zu erschüttern.<br />

Könnte sich das auch in HAUS einlösen?<br />

HG: Die Desorientierung scheint mir in diesem Projekt<br />

auf mehreren Ebenen ein zentrales Element zu sein.<br />

Zum Beispiel entsteht sie durch die Videoarbeit, indem<br />

<strong>der</strong> Raum verdoppelt, verschoben, gedreht wird.<br />

Die Desorientierung bringt nicht nur unsere vermeintlich<br />

stabile Blickstruktur durcheinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n auch<br />

eine Wahrnehmung von Zeitlichkeit. Der Blick auf den<br />

Horizont stabilisiert unsere Betrachter:innenposition<br />

auf eine Zukunft hin. Unsere gewohnten Blickachsen<br />

sind häufig durch koloniale Positionen definiert, wie<br />

Hito Steyerl in ihrem Artikel In Free Fall: A Thought<br />

Experiment on Vertical Perspective schreibt. Im Moment<br />

<strong>der</strong> Desorientierung bricht etwas auf, das uns<br />

zwingt, unsere Umgebung an<strong>der</strong>s wahrzunehmen und<br />

uns an<strong>der</strong>s zu bewegen. Das beinhaltet auch ein an<strong>der</strong>es<br />

Hören, denn die Desorientierung führt immer zu<br />

einem bewussteren Verhältnis zum In-<strong>der</strong>-Welt-Sein.<br />

Das macht sich dieses Projekt in vielerlei Hinsicht zunutze,<br />

etwa, indem ihr das Setting selbst, die Wände,<br />

Geräte und herumliegenden Maschinenteile erklingen<br />

lasst. Gerade im Bereich <strong>der</strong> Infrastruktur ist Desorientierung<br />

eine interessante Methode: Wie kann man das,<br />

was sich unserem Auge o<strong>der</strong> Ohr entzieht, hör- und<br />

sichtbar machen? Also das infra (lat. »unterhalb«) ernst<br />

nehmen und diesem nachspüren? Da gibt es natürlich<br />

Grenzen, aber ich glaube, das ist auch genau das, was<br />

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