15.06.2022 Aufrufe

Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Es ist <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Pandemie, als Łukasz anruft und<br />

sagt, dass er meine Hilfe braucht. Ich kenne ihn nicht gut.<br />

Wir haben uns einige Male in unserem Leben bei Theaterveranstaltungen<br />

gesehen. Je<strong>der</strong> kennt jeden in <strong>der</strong> Theaterwelt,<br />

aber nicht immer beson<strong>der</strong>s gut. Wir werden uns<br />

bald sehr gut kennenlernen.<br />

*<br />

Am 1. März 2019 steigt mein Partner in ein Flugzeug nach<br />

Washington. Er soll dort fünf Monate als Stipendiat verbringen.<br />

Der Plan ist, dass ich mich ihm im April anschließe.<br />

Ich schließe mich nicht an. Der Beginn <strong>der</strong> Pandemie<br />

»erwischt« mich in meinem Heimatdorf, wo ich meine<br />

Eltern besuche. Ich bleibe bei ihnen. Ich schreibe einen<br />

Roman. Ich rufe meinen Freund an. Ich lese Bücher und<br />

Nachrichten. In Zooms erzählt mir Łukasz von einer seltsamen<br />

Gruppe, <strong>der</strong> er angehört. Je<strong>der</strong> Tag verläuft gleich.<br />

*<br />

Ende März 2020 – <strong>der</strong> weltweite Lockdown dauert seit<br />

mehreren Wochen an. Die Nachrichten aktualisieren fortlaufend<br />

die Zahl <strong>der</strong> Infektionen und Opfer, am tragischsten<br />

ist es in Italien. Ich erhalte die Ergebnisse einer Untersuchung,<br />

die ich vor <strong>der</strong> Pandemie habe machen lassen.<br />

Ich bin krank. Ich benötige eine Operation. Die Ärztin sagt<br />

mir, dass die Krankenhäuser keine an<strong>der</strong>en Operationen<br />

durchführen als solche, die Leben retten. Ich muss warten.<br />

Einer meiner Lymphknoten ist geschwollen. Bei einem<br />

privaten Arztbesuch bekomme ich ein Antibiotikum. Der<br />

öffentliche Gesundheitssektor befasst sich nur noch mit<br />

Covid. Die Angst wächst. Ich mache mir Sorgen um meine<br />

Gesundheit. Ich mache mir Sorgen ums Geld. Alle Produktionen,<br />

die ich geplant hatte, wurden abgesagt. Der<br />

Kontakt mit meinem Freund in Washington über Facetime<br />

macht mich fertig. Schließlich kehre ich nach Warschau<br />

zurück, um mich mit dem Projekt von Łukasz und seiner<br />

Gruppe zu befassen. Als ich verreiste, dachte ich, ich würde<br />

nach einer Woche zurückkehren. Ich war zwei Monate<br />

weg. Die Blumen sind vertrocknet. Jemand hat mir mein<br />

Fahrrad aus dem Treppenhaus geklaut. Weiterhin werden<br />

Flüge aus Washington wenige Stunden vor dem Abflug<br />

gestrichen. Ich bin einsam, fürchte mich. Ich weiß nicht,<br />

was ich mit mir anfangen soll. Die Welt ist seltsam und<br />

fremd. Ich habe die Zeiten, in denen ich lebe, nie wirklich<br />

gemocht. Jetzt gefallen sie mir noch weniger.<br />

*<br />

Łukasz erzählt mir immer mehr von seiner Gruppe. Er<br />

nennt sie Respublika. Sie leben in <strong>der</strong> Nähe von Vilnius<br />

und verbringen ihre Tage damit, Raves vorzubereiten und<br />

verbringen die Nächte auf diesen Raves. Aus dem, was er<br />

sagt, schließe ich, dass dies keine riesigen Raves sind. Ein<br />

Dutzend Leute tanzt einfach im Wald, unter ihnen auch<br />

Łukasz. Er sagt, sie wollen raus aus dem Wald und anfangen,<br />

die Welt zu bereisen. Sie wollen Raves organisieren,<br />

aber keine gewöhnlichen Raves. An<strong>der</strong>e. Solche, die an<br />

eine Theatervorstellung erinnern. O<strong>der</strong> einen Film. O<strong>der</strong><br />

eine Ausstellung. Sie brauchen ein Skript für ihre Auftritte.<br />

Jemand, <strong>der</strong> den gesamten Weg von A bis Z aufschreibt.<br />

Ein Drehbuch, das man an verschiedenen Orten wie<strong>der</strong>holen<br />

kann. Wie eine Show. Łukasz schickt mir Aufnahmen<br />

vom Aufenthalt <strong>der</strong> Gruppe im Wald. Mehrere Dutzend<br />

Stunden, mehrere Dutzend Gigabytes. Ich bin Schriftstellerin,<br />

Textdateien nehmen wenig Platz weg. Zum ersten<br />

Mal in meinem Leben kaufe ich externe Festplatten, um<br />

weitere Aufnahmen darauf zu laden. Ich habe mir nie gerne<br />

Aufnahmen von Proben, Improvisationen und Übungen<br />

angesehen. Ich breite weitere Puzzles auf dem Boden aus<br />

und höre einfach nur zu. Die Leute auf den Aufnahmen<br />

sitzen sowieso meistens da und sprechen. Der Ausdruck<br />

ihrer Gesichter interessiert mich nicht. Ich höre alles über<br />

die Stimme. Die Worte sind kurz und knapp, weil eines <strong>der</strong><br />

Gruppenmitglie<strong>der</strong> sie aus dem Litauischen übersetzt. Er<br />

ist kein professioneller Übersetzer. Ich vermute, er übersetzt<br />

»so ungefähr«, ohne Finesse.<br />

*<br />

ICH BEGINNE LANGSAM<br />

ZU VERSTEHEN, DASS<br />

ES IHNEN UM EIN<br />

ANDERES, VIELLEICHT<br />

BESSERES MODELL DER<br />

WELT GEHT. UND DASS<br />

SIE VERSUCHEN, DIESE<br />

WELT IN SICH SELBST<br />

AUFZUBAUEN, DURCH<br />

PRIVATE UND SEHR<br />

INTIME ERFAHRUNGEN.<br />

In weiteren Zooms gibt mir Łukasz mehr Informationen<br />

über die Gruppe. Ich bin unglücklich und habe Angst.<br />

Mein Partner sitzt im Ausland fest, und ich versuche mithilfe<br />

von Videoschnipseln und Łukasz’ Geschichten zu<br />

verstehen, worum es dieser Gruppe von Leuten geht, die<br />

im Wald leben und Techno auflegen. Aus Angst und Einsamkeit<br />

fange ich an, innerlich alles zu sabotieren, worüber<br />

Łukasz spricht, aber ich mache es so, dass er es nicht<br />

registriert. Er ist meine einzige Verbindung zur Gruppe.<br />

Ich habe den Eindruck, dass er kein guter Link ist. Er ist<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage, mir gut zu übermitteln, was ihre Vision<br />

ist. Was sie tun und weshalb. Ich stelle ihm viele Fragen,<br />

bohre nach, weil ich trotz allem das Gefühl habe, dass<br />

ich mich auf eine seltsame Weise zu dieser Gruppe hingezogen<br />

fühle, auch wenn seine Erklärungen unklar sind.<br />

Vielleicht kommt meine Sabotage daher, dass die Gruppe<br />

genau das macht, was ich gerne machen würde, mir aber<br />

<strong>der</strong> Mut fehlt? Also rede ich mir lieber ein, dass sie ein<br />

Haufen Freaks sind?<br />

*<br />

171

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!