Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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Dimension nach dem Tod in Aussicht; in Tod <strong>der</strong> Stimme<br />
blickt die 19-jährig verstorbene griechische Dichterin Erinna<br />
ins Reich <strong>der</strong> Schatten, wo jeglicher Schall erstickt; in<br />
Tod <strong>der</strong> Menschheit schließlich beschwört eine Passage<br />
aus dem Gilgamesch-Epos die apokalyptische Sintflut -<br />
und die Ruhe, die ihr folgt: Alles, auch die Menschheit,<br />
hat sich aufgelöst, verflüssigt. Das schlammartige Meer,<br />
das zurückbleibt, ist die Quelle neuen Lebens. So wird das<br />
Wiegenlied, mit dem Grisey seine Schwellengesänge beschließt,<br />
zum Geleit nicht in den ewigen Schlaf, son<strong>der</strong>n<br />
in ein neues Dasein. Leben ist Tod ist Leben. Anfang ist<br />
Ende ist Anfang.<br />
die spezifische Konstellation von Obertönen ist es, die<br />
die Farbe eines jeden Klangs generiert und definiert. An<strong>der</strong>s<br />
als <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>gründig erklingende Grundton wird die<br />
Klangfarbe auf einer schwer zu verortenden Ebene wahrgenommen:<br />
Es ist gewissermaßen die Aura des Tons.<br />
Spektralmusik (musique spectrale) ist die offizielle Bezeichnung,<br />
wobei Grisey den Begriff Schwellenmusik<br />
(musique liminale) bevorzugte, da ihre Domäne die hochaufgelösten<br />
Randgebiete und Binnenstrukturen <strong>der</strong> Töne<br />
sind. Dank <strong>der</strong> besagten mikrotonalen Technik werden<br />
aus harten Tongrenzen durchlässige Membrane, lebendige<br />
Gewebe, durch die man in an<strong>der</strong>e, scheinbar unzugängliche<br />
Sphären übergehen – o<strong>der</strong> metaphysisch gesprochen:<br />
transzendieren kann. In keinem seiner Werke erfüllt sich<br />
dieses Potenzial musikalisch wie inhaltlich so umfassend<br />
und explizit wie in seinen Quatre chants pour franchir le<br />
seuil (Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten) von 1998,<br />
Griseys letztem Werk, bevor er 52-jährig plötzlich an einem<br />
Aneurysma starb. Die Schwelle, die er hier viermal<br />
passiert, ist jene ultimative zwischen Leben und Tod. Die<br />
Gesänge sind poetische, metaphysische Manifestationen<br />
von Leere, Stille, Verschwinden, von Echos und Schatten<br />
im existenziellen wie im akustischen Sinne. Tatsächlich<br />
sah Grisey in den Obertonspektren eine Art immaterielles<br />
Schattenreich: »Mit dem Schatten <strong>der</strong> Klänge zu komponieren,<br />
bedeutet das Imaginieren einer Instrumentierung,<br />
die die Tiefen beleuchtet, in denen die verschiedenen Farben<br />
(timbres) zum Leben erwachen«, schreibt er in seinem<br />
Buch Ècrits ou l’invention de la musique spectrale. Vier<br />
poetische Fragmente aus unterschiedlichen Zeiten und<br />
Kulturen führen in den Quatre chants über die Schwelle:<br />
in Tod des Engels offenbart <strong>der</strong> Dichter Christian Guez-<br />
Ricord, dass die Lebensaufgabe eines jeden in seinem<br />
Sterben liegt; in Tod <strong>der</strong> Zivilisation stellen altägyptische<br />
Sarkophaginschriften den Eingang in eine astrale<br />
Olivier Messiaen<br />
Auch Griseys Lehrer Olivier Messiaen, 1908 geboren, assoziierte<br />
mit dem Tod des Leibes nicht eine Begrenzung<br />
o<strong>der</strong> gar das Ende. Ganz im Gegenteil – wie schon seine<br />
Antwort auf die Frage, ob er sich für Raumfahrt interessiere,<br />
nahelegt: »Ja, das ist wun<strong>der</strong>bar, aber ich denke,<br />
dass sie mir nach meinem Tod auf ganz natürliche Weise<br />
ermöglicht werden wird, wenn we<strong>der</strong> Entfernungen noch<br />
die Materie mich mehr werden aufhalten können.« Messiaen<br />
ist ein Mann des Überzeitlichen. Der Tod ist kein<br />
grimmiger Schnitter, <strong>der</strong> allem Schönen und Lebendigen<br />
ein Ende setzt. In Messiaens Lie<strong>der</strong>zyklus Harawi (1945)<br />
bringt <strong>der</strong> Tod wahre Liebe überhaupt erst zur Erfüllung.<br />
Inspiriert von <strong>der</strong> transzendenten Idee des Liebestods aus<br />
dem Tristan-Mythos schuf Messiaen eine ganze Werktrilogie.<br />
Und Harawi, <strong>der</strong>en erster Teil, beschwört einen Typus<br />
Liebeslied aus <strong>der</strong> Andenregion, bei dem <strong>der</strong> Tod <strong>der</strong><br />
Liebenden das definierende Element ist.<br />
Messiaens sublimierter Liebesbegriff geht aus seinem<br />
christlichen Glauben hervor, <strong>der</strong> die göttliche Liebe als<br />
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