15.06.2022 Aufrufe

Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Dimension nach dem Tod in Aussicht; in Tod <strong>der</strong> Stimme<br />

blickt die 19-jährig verstorbene griechische Dichterin Erinna<br />

ins Reich <strong>der</strong> Schatten, wo jeglicher Schall erstickt; in<br />

Tod <strong>der</strong> Menschheit schließlich beschwört eine Passage<br />

aus dem Gilgamesch-Epos die apokalyptische Sintflut -<br />

und die Ruhe, die ihr folgt: Alles, auch die Menschheit,<br />

hat sich aufgelöst, verflüssigt. Das schlammartige Meer,<br />

das zurückbleibt, ist die Quelle neuen Lebens. So wird das<br />

Wiegenlied, mit dem Grisey seine Schwellengesänge beschließt,<br />

zum Geleit nicht in den ewigen Schlaf, son<strong>der</strong>n<br />

in ein neues Dasein. Leben ist Tod ist Leben. Anfang ist<br />

Ende ist Anfang.<br />

die spezifische Konstellation von Obertönen ist es, die<br />

die Farbe eines jeden Klangs generiert und definiert. An<strong>der</strong>s<br />

als <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>gründig erklingende Grundton wird die<br />

Klangfarbe auf einer schwer zu verortenden Ebene wahrgenommen:<br />

Es ist gewissermaßen die Aura des Tons.<br />

Spektralmusik (musique spectrale) ist die offizielle Bezeichnung,<br />

wobei Grisey den Begriff Schwellenmusik<br />

(musique liminale) bevorzugte, da ihre Domäne die hochaufgelösten<br />

Randgebiete und Binnenstrukturen <strong>der</strong> Töne<br />

sind. Dank <strong>der</strong> besagten mikrotonalen Technik werden<br />

aus harten Tongrenzen durchlässige Membrane, lebendige<br />

Gewebe, durch die man in an<strong>der</strong>e, scheinbar unzugängliche<br />

Sphären übergehen – o<strong>der</strong> metaphysisch gesprochen:<br />

transzendieren kann. In keinem seiner Werke erfüllt sich<br />

dieses Potenzial musikalisch wie inhaltlich so umfassend<br />

und explizit wie in seinen Quatre chants pour franchir le<br />

seuil (Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten) von 1998,<br />

Griseys letztem Werk, bevor er 52-jährig plötzlich an einem<br />

Aneurysma starb. Die Schwelle, die er hier viermal<br />

passiert, ist jene ultimative zwischen Leben und Tod. Die<br />

Gesänge sind poetische, metaphysische Manifestationen<br />

von Leere, Stille, Verschwinden, von Echos und Schatten<br />

im existenziellen wie im akustischen Sinne. Tatsächlich<br />

sah Grisey in den Obertonspektren eine Art immaterielles<br />

Schattenreich: »Mit dem Schatten <strong>der</strong> Klänge zu komponieren,<br />

bedeutet das Imaginieren einer Instrumentierung,<br />

die die Tiefen beleuchtet, in denen die verschiedenen Farben<br />

(timbres) zum Leben erwachen«, schreibt er in seinem<br />

Buch Ècrits ou l’invention de la musique spectrale. Vier<br />

poetische Fragmente aus unterschiedlichen Zeiten und<br />

Kulturen führen in den Quatre chants über die Schwelle:<br />

in Tod des Engels offenbart <strong>der</strong> Dichter Christian Guez-<br />

Ricord, dass die Lebensaufgabe eines jeden in seinem<br />

Sterben liegt; in Tod <strong>der</strong> Zivilisation stellen altägyptische<br />

Sarkophaginschriften den Eingang in eine astrale<br />

Olivier Messiaen<br />

Auch Griseys Lehrer Olivier Messiaen, 1908 geboren, assoziierte<br />

mit dem Tod des Leibes nicht eine Begrenzung<br />

o<strong>der</strong> gar das Ende. Ganz im Gegenteil – wie schon seine<br />

Antwort auf die Frage, ob er sich für Raumfahrt interessiere,<br />

nahelegt: »Ja, das ist wun<strong>der</strong>bar, aber ich denke,<br />

dass sie mir nach meinem Tod auf ganz natürliche Weise<br />

ermöglicht werden wird, wenn we<strong>der</strong> Entfernungen noch<br />

die Materie mich mehr werden aufhalten können.« Messiaen<br />

ist ein Mann des Überzeitlichen. Der Tod ist kein<br />

grimmiger Schnitter, <strong>der</strong> allem Schönen und Lebendigen<br />

ein Ende setzt. In Messiaens Lie<strong>der</strong>zyklus Harawi (1945)<br />

bringt <strong>der</strong> Tod wahre Liebe überhaupt erst zur Erfüllung.<br />

Inspiriert von <strong>der</strong> transzendenten Idee des Liebestods aus<br />

dem Tristan-Mythos schuf Messiaen eine ganze Werktrilogie.<br />

Und Harawi, <strong>der</strong>en erster Teil, beschwört einen Typus<br />

Liebeslied aus <strong>der</strong> Andenregion, bei dem <strong>der</strong> Tod <strong>der</strong><br />

Liebenden das definierende Element ist.<br />

Messiaens sublimierter Liebesbegriff geht aus seinem<br />

christlichen Glauben hervor, <strong>der</strong> die göttliche Liebe als<br />

213

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!