Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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vielen an<strong>der</strong>en. Du arbeitest häufig mit Filmstars. Ist das<br />
einer Verkaufslogik geschuldet?<br />
Nein, das kann ich mit Sicherheit sagen. Meine Zusammenarbeit<br />
mit Cate Blanchett ergab sich zufällig<br />
aus einem privaten Kontakt über einen gemeinsamen<br />
Freund. Bei EUPHORIA hat sich die Besetzung von Giancarlo<br />
Esposito aus <strong>der</strong> Rolle ergeben. Ich zitiere eine<br />
Filmszene aus Jim Jarmuschs Night on Earth, in <strong>der</strong><br />
Giancarlo schon einmal am Steuer eines Taxis saß, mit<br />
dem eigentlichen Taxifahrer auf dem Rücksitz, gespielt<br />
von Armin Mueller-Stahl. Mich hat es gereizt, ihn 30<br />
Jahre später wie<strong>der</strong> in dieses Taxi steigen und durch<br />
New York fahren zu lassen. EUPHORIA ist eine englischsprachige<br />
Produktion – die Park Avenue Armory<br />
in New York ist die Hauptproduzentin – und die Besetzung<br />
<strong>der</strong> Rollen lief deshalb unter an<strong>der</strong>em über eine<br />
Casting-Agentin. Da kommen dann bei einem Open<br />
Call auch mal 1000 Bewerber:innen zusammen, davon<br />
werden 100 eingeladen, die schaut man sich alle an<br />
und nimmt die besten, die im Drehzeitraum verfügbar<br />
sind. Virginia Newcomb haben wir zum Beispiel auf<br />
diese Weise gefunden. Ich kannte sie vorher gar nicht.<br />
Ich kann aber sagen, dass ich gerne mit sehr guten<br />
Schauspieler:innen zusammenarbeite. Und sogenannte<br />
Stars sind nun mal oft sehr gut.<br />
Der Aufwand für EUPHORIA ist über den Zeitraum seiner<br />
Entstehung gewachsen, ja geradezu angeschwollen –<br />
liegt das in <strong>der</strong> Natur des Themas, dem das Wuchern<br />
inhärent ist?<br />
Ich fürchte, das liegt eher an mir. Ich sage immer: Das<br />
nächste Mal wird es etwas Kleineres. Ich lüge mir da<br />
gerne in die Tasche. Wenn dann aber die Ideen langsam<br />
Form annehmen, <strong>der</strong> inneren Logik des Projektes<br />
folgend, beginnen die Projekte zu wuchern. Mein<br />
Malkasten ist <strong>der</strong> Apparat <strong>der</strong> Filmproduktion. Ich bin<br />
dankbar dafür, dass ich in diesen Maßstäben arbeiten<br />
kann und genieße das sehr. Das bedeutet aber auch,<br />
dass man mit allen Gewerken, die in die Erzeugung einer<br />
solchen Produktion involviert sind, sehr strukturiert<br />
arbeiten muss. Und da greifen dann auch die Mechanismen<br />
<strong>der</strong> Marktwirtschaft. Drehzeit ist teuer. Wenn<br />
Du Fehler machst, erhöhen sich Leihkosten für das<br />
Material, Mitarbeiter:innen müssen länger beschäftigt<br />
werden etc. Die Arbeit ist äußerst intensiv. Ich probe<br />
vorher viel – das wäre im kommerziellen Kinogeschäft<br />
gar nicht möglich. Meine Projekte können nur realisiert<br />
werden, weil die Leute, mit denen ich arbeite, sich<br />
freuen, wenn ich alle paar Jahre mit einer Idee ankomme.<br />
Die Mitwirkenden arbeiten unter ihren regulären<br />
Gagen, die Firmen zu an<strong>der</strong>en Bedingungen. An<strong>der</strong>s<br />
wäre solch eine Arbeit gar nicht möglich. Bei einem<br />
Kunstprojekt wie diesem entfällt ja quasi die kommerzielle<br />
Verwertung. EUPHORIA lässt sich vermutlich außerhalb<br />
<strong>der</strong> großen Festivals kaum verkaufen, und ob<br />
daraus jemals eine verwertbare Kinofassung entsteht,<br />
wie bei Manifesto, steht in den Sternen. Wir sind daher<br />
darauf angewiesen, dass das Team einen Teil <strong>der</strong> Honorierung<br />
aus dem gemeinsamen Erlebnis zieht. Und<br />
das ist immer ein großer Spaß, auch wenn wir dabei<br />
alle an unsere Grenzen gehen. Ich arbeite seit Jahren<br />
immer wie<strong>der</strong> mit denselben Leuten, es sind enge<br />
Freundschaften entstanden und wir freuen uns miteinan<strong>der</strong>,<br />
wenn es alle paar Jahre nach langer Recherche<br />
und Vorproduktion wie<strong>der</strong> losgeht. Ich glaube, <strong>der</strong><br />
Reiz einer solchen Produktion besteht unter an<strong>der</strong>em<br />
gerade auch darin, für etwas zu arbeiten, das sich den<br />
gewöhnlichen Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Vermarktung<br />
entzieht. Das setzt überraschen<strong>der</strong>weise ungeheure<br />
Energien frei.<br />
Die Szenen spielen alle in den USA. Gedreht habt ihr aber<br />
nicht nur dort, son<strong>der</strong>n auch in Sofia und Kiew. Das hatte<br />
keine inhaltlichen Gründe.<br />
Nein, hatte es tatsächlich nicht. Wir konnten in Bulgarien<br />
und <strong>der</strong> Ukraine einfach deutlich günstiger produzieren<br />
als in den USA. Und es gibt dort hervorragende<br />
Filmstudios und Filmproduktionsfirmen. Während<br />
<strong>der</strong> Produktion haben wir viel darüber gesprochen,<br />
wie sehr wir selbst bei <strong>der</strong> Produktion einer kapitalismuskritischen<br />
Arbeit in <strong>der</strong> Logik des Kapitalismus<br />
gefangen sind. Es gibt kein Entkommen. Wir sind alle<br />
nicht gefeit vor seinen Verlockungen und bezirzt von<br />
den Versprechungen, die dieses System jedem von<br />
uns macht, von seinen Möglichkeiten. Auch wenn das<br />
manchmal nur ganz banal heißt, etwas an<strong>der</strong>orts billiger<br />
zu bekommen. Kiew und Sofia hatten aber auch<br />
Motive und Locations zu bieten, über die wir ein etwas<br />
an<strong>der</strong>es, fiktionaleres und dystopisches Nordamerika<br />
erzählen konnten.<br />
ES BRAUCHT EINE<br />
NEUKALIBRIERUNG<br />
UNSERES<br />
WERTESYSTEMS<br />
»System« ist ja eigentlich auch ein Euphemismus, <strong>der</strong> die<br />
Verantwortung verschiebt. Wir sind das System.<br />
Das stimmt. Der Erfolgszug des Kapitalismus ist ja<br />
inzwischen längst auch in Russland und China angekommen,<br />
auch wenn dies dort ideologisch an<strong>der</strong>s<br />
verkauft wird und zu großen Friktionen führt, wie wir<br />
sie gerade erleben. Und was uns betrifft: Dass wir<br />
am Abgrund unseres Lebensentwurfs stehen, haben<br />
wir theoretisch begriffen, aber bislang ziehen wir keine<br />
Konsequenz daraus. Ich halte allerdings nicht den<br />
Kapitalismus an sich für verwerflich, son<strong>der</strong>n seine<br />
völlig entfesselte und enthemmte Pervertierung in<br />
Form einer neoliberalen Marktwirtschaft, <strong>der</strong>en Konsequenzen<br />
– nämlich die himmelschreiende Ungerechtigkeit<br />
<strong>der</strong> Verteilung von Wohlstand und Zugang<br />
zu Bildung und Gesundheit, die viel zitierte immer weiter<br />
klaffende Schere zwischen Arm und Reich – sich<br />
letztlich gegen uns wenden, von außen wie von innen.<br />
Die Entfesselung auf <strong>der</strong> einen Seite verursacht eine<br />
Entfesselung auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Das manifestiert<br />
sich in <strong>der</strong> wachsenden Wut <strong>der</strong> Benachteiligten auf<br />
die Profiteure, die dann in Phänomene wie Terrorismus<br />
mündet o<strong>der</strong> dem Populismus Tür und Tor öffnet,<br />
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