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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Es ist eine ungewöhnliche Gelegenheit, <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

ein Gespräch mit meiner Schwester über das Solostück A<br />

plot / A scandal zu präsentieren. In Ligias Beschreibung<br />

handelt es sich gar nicht um ein Solo. Ich erkenne das an<br />

<strong>der</strong> Art, wie sich ihre Poetik auf <strong>der</strong> Bühne zeigt und wie<br />

für Ligia alles, was ihre Arbeit prägt – die Menschen, die<br />

Ideen, die Kunst, die Ereignisse, die Geister –, immer mit<br />

ihr in den Werken präsent ist. Gewissermaßen stehen wir<br />

schon lebenslang im persönlichen, künstlerischen und<br />

intellektuellen Dialog miteinan<strong>der</strong>. Das heißt, als Schwestern<br />

waren wir durch verschiedene Phasen unserer Leben<br />

an den Auseinan<strong>der</strong>setzungen beteiligt, die unsere jeweilige<br />

Arbeit antreiben. In unserer folgenden Unterhaltung erläutern<br />

wir einige dieser Auseinan<strong>der</strong>setzungen, die in Ligias<br />

jüngstem Werk A plot / A scandal thematisiert werden.<br />

Sarah Lewis-Cappellari: Hinsichtlich deiner künstlerischen<br />

Praxis, insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> jüngsten Arbeit, haben<br />

wir schon oft über diese dunkle und packende Metapher<br />

gesprochen, die mir manchmal in den Kopf kommt: von<br />

dir als Gevatter Tod, <strong>der</strong> durch die künstlerische Tötung<br />

rassistischer Logiken gegen Schwarze Menschen Raum<br />

für alternative Ausgänge schafft. Diese Logiken sind<br />

z.B. rassistische Sinneswahrnehmungen, in denen als<br />

Schwarz markierte Menschen zu visuellen Markern werden,<br />

anhand <strong>der</strong>er eine Hierarchie des Seins / <strong>der</strong> Gewichtung<br />

begründet, naturalisiert und (re)produziert wird.<br />

Ist dein neues Werk A plot / A scandal als Selbstporträt<br />

nun ein weiterer Versuch, solche Logiken zu stürzen und<br />

zu beseitigen? Willst du damit die reduzierenden Konzepte<br />

von Identität angreifen, die Rassifizierung, Klasse,<br />

Geschlecht, Sexualität, Befähigung etc. als knechtende<br />

Marker aufrechterhalten?<br />

Ligia Lewis: Wie können wir uns denn jenseits <strong>der</strong><br />

Westlichen Konzeption des Selbst auf Identität beziehen?<br />

Westliche Konzepte von Identität sind zu stark mit<br />

dem Selbst befasst. Denn es gibt eine Machtmatrix, die<br />

Schwarzsein, An<strong>der</strong>sheit, Indigenität, Nicht-Weißsein<br />

als min<strong>der</strong>wertig o<strong>der</strong> defizitär figuriert. Still Not Still<br />

spielt ziemlich ausdrücklich und grotesk mit Macht:<br />

als einem grundlegenden, sich selbst erschöpfenden<br />

Wesenszug jenes Menschen, <strong>der</strong> als europäisch,<br />

weiß rassifiziert, heteronormativ, cis-männlich, allwissend<br />

und universell konzipiert wird. Indem ich aufzeige,<br />

wie Macht so willkürlich, ohne Sinn und Verstand<br />

operiert, versuche ich einen Weg aus ihren Fängen<br />

herauszufinden. Mit diesem Stück versuche ich, mich<br />

selbst zu kartieren – mit all meinen nuancierten, begehrenden,<br />

fiktiven und imaginativen Fähigkeiten; aber<br />

nicht als ein Selbstporträt, das die Komplexität und<br />

vielschichtigen historischen Narrative reduziert, aus<br />

denen sich Identitäten zusammenfügen. Diese Identitäten<br />

müssen benannt werden, um bestimmte politische<br />

Arbeit zu ermöglichen. Ich verstehe Identität also<br />

als eine politische Positionierung, die eine Reihe von<br />

Praktiken leiten kann. Daran orientiert sich auch meine<br />

Ausrichtung von Performance und Theater als Ort<br />

des Sehens, als Raum des Erkennens. Ich kartiere eine<br />

Praxis, die von meinen Inspirationen geprägt ist, von<br />

meiner Liebe fürs Theater und den Vorstellungswelten,<br />

zu denen es einlädt; sowie von all dem, gegen das ich<br />

mich wende, sobald ich in den Bezugsraum des Theaters<br />

eintrete.<br />

SLC: Als du neulich über Bil<strong>der</strong> und Geschichten sprachst,<br />

blieb mir beson<strong>der</strong>s im Kopf, dass du im Kontext <strong>der</strong> multiplen<br />

Geschichte/n, die dazu führen, wie wir die Welt erfahren,<br />

Klangbil<strong>der</strong> erzeugen möchtest. Indem du diese<br />

musikalische Metapher nutzt, um über Visualität zu sprechen,<br />

weist du uns sinnlich bereits auf etwas an<strong>der</strong>es hin.<br />

Du führst uns nicht zu einer visuell reduktiven Praxis, son<strong>der</strong>n<br />

zu einer, die nachklingt und wi<strong>der</strong>hallt, die nicht reduziert,<br />

nicht eingefangen werden kann, richtig? Ich finde<br />

diese Vorstellung von Klangbil<strong>der</strong>n und wie du das mit <strong>der</strong><br />

Idee von Identität als politischer Positionierung zusammendenkst,<br />

wirklich interessant.<br />

LL: Ich mag diese Vorstellung eines klingenden Bildes<br />

– eines Bildes, das mehrere Ebenen aufruft, auf<br />

denen es wahrgenommen werden könnte. Ich arbeite<br />

mit multiplen Logiken <strong>der</strong> Sinnesorgane, was eine Art<br />

Chaos schafft, aus dem Dissonanz hervorgehen kann<br />

und Momente <strong>der</strong> Stille sprechen dürfen.<br />

SLC: Du näherst dich den tiefen, dunklen Angelegenheiten<br />

<strong>der</strong> Bedeutungsgebung in deinem Werk auf viele verschiedene<br />

Weisen. Eine davon ist <strong>der</strong> Humor – o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

»Unsinn«, »fuckery«, wie du es manchmal nennst. Vielleicht<br />

ist es eine Strategie, um die Absurdität von Alltagspraktiken<br />

<strong>der</strong> Beherrschung und Unterwerfung sowie die<br />

Absurdität jener politischen Architektur anzuprangern?<br />

Was findest du an Humor so produktiv? Was erzeugt o<strong>der</strong><br />

eröffnet er für dich? Welche Wege ermöglicht er dir?<br />

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