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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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LL: Die Komödie ist die Kehrseite <strong>der</strong> Tragödie. Im<br />

besten Fall kann die Komik auf die Grenzen <strong>der</strong> Darstellbarkeit<br />

hinweisen, indem sie die Dinge auf eine<br />

gewisse Weise verflacht. Was an<strong>der</strong>nfalls tiefgreifend<br />

o<strong>der</strong> unerträglich erscheinen mag, wird durch Humor<br />

schlicht und einfach. Was passiert, wenn diese<br />

stumpfe Deutlichkeit direkt geäußert wird, als das, was<br />

niemand aussprechen will, was aber gesagt werden<br />

muss? Was passiert, wenn wir durch Humor erkennen<br />

können, wie Gewalt gar nicht weit weg von uns stattfindet,<br />

son<strong>der</strong>n in schlichten Alltagssituationen – oft<br />

durch Nebenhandlungen – geprobt wird. Ich denke<br />

also, <strong>der</strong> Rückgriff auf Humor ist mir so wichtig, weil<br />

er nicht in Gänze die Arbeit <strong>der</strong> Übersetzung erledigen<br />

kann. Humor stellt die Unmöglichkeit <strong>der</strong> Übersetzung<br />

heraus, während er zugleich eng mit seinem Gegenstück,<br />

seiner Gefährtin, <strong>der</strong> Tragödie, kuschelt.<br />

SLC: Da wir verschiedene textuelle und künstlerische<br />

Quellen gemeinsam gelesen und besprochen haben,<br />

dachte ich, wir könnten über einen Text ein bisschen weiterreden,<br />

und zwar über Saidiya Hartmans Das Komplott<br />

zu ihrer Zerstörung. 1 Du spielst auf mehreren Ebenen mit<br />

dem Konzept des plot – also des Handlungsverlaufs als<br />

narrativer Plot, des Komplotts als politisches Motiv und<br />

des Grundstücks als räumlich-ökonomische Wirklichkeit. 2<br />

In Hartmans Text ist dieser Komplott die Materialisierung<br />

einer erschreckenden Fiktion: Mehrere Arten, zu sein, zu<br />

fühlen und zu wissen, werden einer einzigen Perspektive<br />

unterworfen, die von jenen gestaltet wurde, die sich<br />

als rechtmäßige Herrscher über alle Formen des Seins/<br />

Fühlens/Wissens etablieren möchten. Es handelt sich<br />

um eine Fiktion, die auf materieller und auf symbolischer<br />

Ebene die totale Gewalt einführen und jeglichen Gesamtwert<br />

ausbeuten soll. Hartman bietet uns verschiedene<br />

Beispiele, wie dieser Komplott mit <strong>der</strong> Vorstellung vom<br />

Leib als Eigentum beginnt. Etwa mit <strong>der</strong> Überzeugung,<br />

dass ›sie‹ das fehlende Bindeglied zwischen Tier und<br />

Mensch sei; mit all den Motiven, durch die die schwarz<br />

rassifizierte und weiblich vergeschlechtlichte ›sie‹ zur nie<strong>der</strong>sten<br />

und am wenigsten empfindsamen Form menschlichen<br />

Seins erklärt wird. Nachdem Hartman über den<br />

endlosen Horror dieser Zerstörung schreibt, über die unzähligen<br />

Weisen, wie dieser Komplott umgesetzt wurde,<br />

bespricht sie, wie diese verwirklichte brutale Fiktion womöglich<br />

unterlaufen und aufgehoben werden kann. Zwei<br />

Aspekte o<strong>der</strong> Strategien, die sie nennt, sind die Tarnung<br />

sowie <strong>der</strong> Hinweis, dass es nicht um Unterhaltung geht.<br />

Und dann dachte ich über deinen Plot nach, <strong>der</strong> sehr öffentlich<br />

ist. Er ist dazu bestimmt, öffentlich angesehen<br />

zu werden, was vielleicht zu dem Skandal darin führt? Ich<br />

fragte mich also, was an dieser Öffentlichkeit wichtig für<br />

deinen Plot ist o<strong>der</strong> wie du diesen Akt <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Schau konzipierst?<br />

ICH HALTE ES FÜR<br />

EIN RECHT, ZU<br />

SKANDALISIEREN;<br />

FÜR EIN VERGNÜGEN,<br />

SKANDALISIERT ZU<br />

WERDEN; UND FÜR<br />

MORALISTISCH, SICH<br />

DER SKANDALISIERUNG<br />

ZU VERWEIGERN.<br />

Pier Paolo Pasolini<br />

LL: Richtig. Mir gefällt Hartmans Idee, dass eine Zerstörung<br />

des Komplotts gegen eine rassifizierte »sie«<br />

eine Art Exorzismus erfor<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> nur unauffällig stattfinden<br />

kann; weil rassistische Gewalt in ihrer Spektakularisierung,<br />

in ihrer Öffentlichkeit, in <strong>der</strong> Leichtigkeit<br />

ihrer Darstellung so gewaltvoll ist. In <strong>der</strong> rassistischen<br />

Matrix, in <strong>der</strong> wir gegenwärtig leben, ist auf <strong>der</strong> Ebene<br />

des Sehens und Gesehenwerdens alles, was mit Rassifizierung<br />

zu tun hat, von Gewalt gefärbt. Erfor<strong>der</strong>lich<br />

ist eine Art des Sehens – o<strong>der</strong> vielmehr des Bezeugens<br />

–, wie dies funktioniert. Hartmans Erzählung des<br />

Komplotts erinnert mich an das wun<strong>der</strong>bare, nachdenkliche<br />

Lied The Revolution Will Not Be Televised –<br />

deutsch: Die Revolution wird nicht im Fernsehen laufen<br />

– von Gil Scott-Heron, weil das eben nicht geht.<br />

Ich arbeite kritisch vom Körper her. Ich umtanze die<br />

Dinge. In diesem Stück möchte ich um diesen Geist<br />

herumtanzen, dieses Begehren, indem ich seine Umrisse<br />

berühre und ihn ins Sein erträume. Welche Komplotte<br />

müssen zerstört werden, damit sich neue, umfassen<strong>der</strong>e<br />

Geschichten bilden können?<br />

Anhand dieser Metapher eines Plots, den ich als Geschichte<br />

verstehe, die erzählt werden muss, werde<br />

1 Saidiya Hartman, Das Komplott zu ihrer Zerstörung, Auszug aus Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint), aus dem amerikanischen<br />

Englisch von Yasemin Dinçer, August Verlag, <strong>2022</strong>, www.matthes-seitz-berlin.de/news/das-komplott-zu-ihrer-zerstoerung.html Originaltext:<br />

The Plot of Her Undoing, Feminist Art Coalition, 3. Nov. 2019, feministartcoalition.org/essays-list/saidiya-hartman<br />

2 Übersetzerische Anmerkung: Ligia Lewis bezieht sich auf drei Bedeutungen des englischen Wortes plot: die narrative Ebene des dramaturgischen<br />

Handlungsverlaufs (im Raum des Theaters); die politische Ebene des Komplotts als Wi<strong>der</strong>stand gegen Unterdrückungsverhältnisse (eine<br />

Wendung von Saidiya Hartmans Motiv <strong>der</strong> Zerstörung des Komplotts gegen Schwarze Frauen); sowie die geografisch-ökonomische Ebene<br />

des Grundstücks (Lewis’ Großmutter besaß als Schwarze Frau Land in <strong>der</strong> Dominikanischen Republik, was in kolonialen Verhältnissen skandalisiert<br />

wurde). In dieser Übersetzung bleibe ich bezüglich Lewis’ Werk beim eingedeutschten Plot mit dem Fokus auf <strong>der</strong> Erzählung eines<br />

Bedeutungsraums; bezüglich Hartmans Text beim Komplott wie in <strong>der</strong> bestehenden Übersetzung von Yasemin Dinçer.<br />

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