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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Ich habe den Wissenschaftlern immer geglaubt, die die<br />

Menschheit vor <strong>der</strong> Klimakatastrophe gewarnt haben.<br />

Bis vor kurzem hatte ich jedoch gehofft, dass sie nicht so<br />

schlimm werden wird, wie angekündigt. Jetzt bin ich überzeugt,<br />

dass sie sogar noch schlimmer werden wird. Und<br />

dass sie eintreten wird, bevor wir dafür bereit sind.<br />

*<br />

Ich weiß, dass Ereignisse wie Respublika bewirken, dass<br />

man die Welt an<strong>der</strong>s sieht und wahrnimmt. Ich habe es<br />

selbst erlebt. Ich weiß, dass die Gemeinschaft, die bei<br />

solchen Veranstaltungen entsteht, absolut real ist. Sie ist<br />

auch von kurzer Dauer. Über viele Stunden, Wochen und<br />

Monate ist man mit jemandem zusammen, mit dem man<br />

ein Gefühl <strong>der</strong> Begeisterung teilt, und dann kommt die unvermeidliche<br />

Trennung.<br />

Ich weiß, dass Ereignisse wie Respublika bewirken, dass<br />

man die Welt an<strong>der</strong>s sieht und wahrnimmt. Ich habe es<br />

selbst erlebt.<br />

Ich glaube jedoch daran, dass sich <strong>der</strong> Körper und das<br />

Gehirn an vieles erinnern. Die Rezeptoren speichern Erinnerungen<br />

an all das, was stark genug war, um in ihnen eingeschrieben<br />

zu werden. Respublika ist für viele Menschen<br />

eine solche Erfahrung. Die Erfahrung von Offenheit, Freiheit,<br />

Befreiung und Gemeinschaft, die bei Respublika-Teilnehmern<br />

entsteht, ist ein Schatz, den man in sich bewahren<br />

kann. Wird sich die Welt dadurch verän<strong>der</strong>n? Nein.<br />

Wird sich <strong>der</strong> einzelne Mensch dadurch verän<strong>der</strong>n? Wahrscheinlich<br />

nicht. Geht es unbedingt um die Verän<strong>der</strong>ung?<br />

Vielleicht nicht. Reicht <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung,<br />

um zu fühlen, dass man alles Mögliche dafür getan hat?<br />

Nein. Ist <strong>der</strong> Versuch das Einzige, was im Rahmen unserer<br />

Möglichkeiten liegt? Ich glaube schon. Ist das eine triviale<br />

Schlussfolgerung? Ja. Aber genau an diesem Punkt endet<br />

meine Vorstellungskraft.<br />

*<br />

Respublika war <strong>der</strong> Versuch, sich die Zukunft vorzustellen.<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe leben in einer Welt ohne Tiere.<br />

Der Kapitalismus ist zusammengebrochen. Facebook und<br />

Ryanair gibt es nicht mehr. Die Gruppe hat ihre eigene Infrastruktur<br />

dabei – Musikausrüstung und Attrappen von<br />

Wohnräumen, in denen sie vor vielen Jahrzehnten gelebt<br />

haben. In dieser behelfsmäßigen, nomadischen Welt tauchen<br />

sie in Musik ein. Was suchen sie in ihr? Wahrscheinlich<br />

viele Dinge. O<strong>der</strong> vielleicht nichts. Die Zukunftsvision,<br />

die Łukasz und ich entwickelt haben, ist melancholisch<br />

und traurig, aber nicht ohne Liebe. Heute, fast zwei Jahre<br />

nach ihrer Entstehung, erscheint sie mir nicht feinfühlig<br />

genug, vielleicht sogar peinlich. Während ich diesen Text<br />

schreibe, wird mir klar, dass diese Vision von Anfang an<br />

durch die Zusammenarbeit zweier völlig unterschiedlicher<br />

Köpfe, Charaktere und Temperamente geprägt war. Mein<br />

Gesicht ist wie Sandstein. Ab und zu bewegt sich etwas<br />

darin, wie Sandkörner bei einem leichten Windstoß auf<br />

einem Stein. Łukasz’ Gesicht ist wie eine Handtasche,<br />

aus <strong>der</strong> in einer Sekunde alles herausquillt: Lächeln, Zähne,<br />

Französisch, Polnisch, Englisch, Russisch. Und kleiner<br />

Rauch vom Iqos. Meine Skepsis und seine Hoffnung.<br />

Wir haben etwas voneinan<strong>der</strong> gelernt, obwohl wir wahrscheinlich<br />

nie darüber nachgedacht haben, was genau es<br />

war. Wenn ich heute an die Zukunftsvision denke, die wir<br />

im Skript zu Respublika nie<strong>der</strong>geschrieben haben, versuche<br />

ich, uns nicht vorzuwerfen, dass wir den Krieg nicht<br />

vorhergesehen haben. Dass wir in unserer Zukunftsvision<br />

das Erlebnis einer Gruppe in den Mittelpunkt gestellt haben,<br />

die Techno spielt, tanzt und an<strong>der</strong>e dazu einlädt, und<br />

– selbst wenn die Teilnehmer von Melancholie erfüllt sind<br />

– niemand stirbt. Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussehen<br />

wird. Ich weiß es genauso nicht, wie ich es vor zwei Jahren<br />

nicht wusste. Aber eines weiß ich – solange es uns gibt,<br />

werden wir immer lieben und tanzen – selbst in den allerschlimmsten<br />

Zeiten.<br />

Aus dem Polnischen von Oliver Chrzanowski<br />

JOANNA BEDNARCZYK, Dramaturgin und Autorin, studierte in Krakau Psychologie<br />

und russische Philologie. Außerdem absolvierte Sie die Fakultät für Theaterregie<br />

an <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Theaterkünste in Krakau.<br />

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