Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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die einzig wahre anerkennt. Und im Liebestod wird die<br />
menschliche Liebe quasi von <strong>der</strong> göttlichen berührt, wodurch<br />
sie selbst zu einer ewigen wird. Ob als Komponist,<br />
Ornithologe o<strong>der</strong> Organist – Messiaen widmete sein ganzes<br />
Schaffen <strong>der</strong> Fassbarmachung des Heiligen, Immateriellen,<br />
Spirituellen. Ekstase und Exzess, die notwendig<br />
sind, um den Menschen seiner alltäglichen spirituellen<br />
Begrenztheit zu entheben, sind daher Schlüsselmomente<br />
seiner Musik. Häufig dienen ihm Kontemplation und Meditation<br />
als Mittel, die christlichen Mysterien musikalisch<br />
erlebbar zu machen. Aber auch <strong>der</strong> indirekte, oft rauschhafte<br />
Weg über vermittelnde Instanzen wie Farben (als<br />
Synästhet sah er Klänge tatsächlich als konkrete Farben<br />
vor Augen) o<strong>der</strong> Vogelgesang (er übertrug dessen melodische<br />
und rhythmische Strukturen in Musik) ermöglichte<br />
ihm, das Unbegreifliche hörbar zu machen. Dass er in seiner<br />
Musik als zutiefst Gläubiger meist Ungläubigen von<br />
Gott kündete, empfand er als Tragödie seines Lebens. Bereits<br />
in seinem frühen Orchesterwerk Les offrandes oubliées<br />
(Die vergessenen Opfer) von 1930 klingt diese verzweifelte<br />
Erkenntnis Messiaens an. In dieser sinfonischen<br />
Meditation ruft er das Opfer Christi, <strong>der</strong> für die Menschheit<br />
am Kreuz gestorben ist, in Erinnerung. Ein sanfter<br />
Farbenrausch, in dem er den Zuhörer ertrinken lässt, um<br />
die Liebe Christi spürbar zu machen, rahmt das Werk. Im<br />
Zentrum aber steht <strong>der</strong> Schmerz, die musikalische Inkarnation<br />
<strong>der</strong> Sünde, die diese Atmosphäre scharf und jäh<br />
zerschneidet, das göttliche Liebesopfer quasi schändet.<br />
Galina Ustwolskaja<br />
Eine Frau, die Messiaen in seinem Schmerz und seiner<br />
Verzweiflung verstanden hätte, ist Galina Ustwolskaja, die<br />
vielleicht kompromissloseste Komponistin des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
So kompromisslos, dass sich ihre Musik in <strong>der</strong><br />
Welt, in <strong>der</strong> sie lebte, gänzlich verbat. Und sie sie trotzdem<br />
schrieb. Und sei es für die Schublade. Fremd und<br />
ungestüm schlug ihre Klangsprache, die keiner Schule<br />
und keiner Strömung folgte, in die zeitgenössische Musiklandschaft<br />
im Russland <strong>der</strong> Nachkriegszeit ein. Das Handwerk<br />
hatte sie von Dmitri Schostakowitsch erlernt, dessen<br />
Schüler:innen für ihre Schostakowitsch-Mimesis bekannt<br />
waren. Nicht so Galina Ustwolskaja. Ihr Lehrer bewun<strong>der</strong>te<br />
ihre Eigenständigkeit, hielt sogar um ihre Hand an,<br />
ohne Erfolg.<br />
Mit ihrem unbestechlichen Charakter war Galina Ustwolskaja<br />
1919, zwei Jahre nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution, in<br />
eine denkbar ungünstige Zeit hineingeboren. Die Familie<br />
lebte in materieller Not, ihre Kindheit und Jugend waren<br />
von profundem Einsamkeitsgefühl überschattet. Einzelgängertum<br />
pflasterte ihren Lebensweg, auch wenn dies<br />
<strong>der</strong> normierenden Staatsdoktrin des Sozialistischen Realismus,<br />
<strong>der</strong> seit Anfang <strong>der</strong> 30er Jahre den Kulturbetrieb<br />
bestimmte, quer entgegenstand. Religiöse, spirituelle Inhalte<br />
in Musik zu verarbeiten, wofür Ustwolskaja bekannt<br />
wurde, war selbst nach Stalins Tod 1953 jahrelang tabu.<br />
Die meisten ihrer Werke <strong>der</strong> 40er und 50er Jahre, die <strong>der</strong><br />
Staatsdoktrin zumindest äußerlich Rechnung tragen (darunter<br />
ihre 1. Sinfonie von 1955), wollte die Komponistin<br />
später aus ihrem Werkkatalog, <strong>der</strong> nur 25 gültige Stücke<br />
zählt, verbannt wissen.<br />
Zwischen 1960 und 1970 ergriff Ustwolskaja die konsequent<br />
drastische Maßnahme, praktisch gar keine neuen<br />
Kompositionen mehr an die Öffentlichkeit zu bringen.<br />
Nach ihrem Wie<strong>der</strong>auftauchen im sowjetischen Musikleben<br />
weisen ihre Werke fast ausnahmslos religiöse, liturgische<br />
Titel und Texte auf. Im Unterschied zu Messiaen ist<br />
Ustwolskajas Religiosität aber an eine abstrakte göttliche<br />
Macht gerichtet, stellt sich nicht in den Dienst einer Glaubensinstitution.<br />
Auch ästhetisch dominiert bei ihr eine<br />
ganz an<strong>der</strong>e Sprache: Anstelle von Entwicklung, Fluss und<br />
Farbenrausch stehen hier Klarheit, Bruch und Kollision.<br />
Harmonik kennt ihre vollkommen horizontal konzipierte<br />
Musik höchstens in Form von Clustern (dichten Tonballungen),<br />
wie sie etwa die 3. Sinfonie in eindringlicher Wie<strong>der</strong>holung<br />
eröffnen.<br />
Während das politische Tauwetter <strong>der</strong> 70er Jahre viele<br />
russische Komponist:innen veranlasste, die westliche<br />
Avantgarde zu erforschen und für ihre Arbeit fruchtbar zu<br />
machen, verän<strong>der</strong>te sich Ustwolskajas Musik nur dahingehend,<br />
dass sie charakteristische Eigenschaften noch<br />
radikalisierte: dynamische Extreme, Reduktion <strong>der</strong> Mittel<br />
und ungewöhnliche Konstellationen von Instrumenten.<br />
Dazu kommt die Eigenart, in ihren Sinfonien kein volles<br />
Orchester mehr einzusetzen. Nicht einmal annähernd:<br />
Instrumente <strong>der</strong> Mittellage entfallen typischerweise,<br />
manchmal sogar ganze Instrumentenfamilien: in <strong>der</strong> 2.<br />
Sinfonie etwa die gesamte Streichersektion. Mit je<strong>der</strong><br />
Sinfonie wird die Besetzung kammermusikalischer und die<br />
klangliche Kontrast- und Konturschärfung intensiver, was<br />
Ustwolskaja mit ihrer Tendenz zu schmerzhaft scharfen,<br />
harten Einsätzen noch potenziert.<br />
Schmerz ist nicht nur ihr Begleiter im Rückzug von <strong>der</strong> Welt,<br />
Schmerz ist auch das Transportmittel, das Galina Ustwolskaja<br />
in ihrer Musik in eine an<strong>der</strong>e Sphäre beför<strong>der</strong>t.<br />
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