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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Männlichkeit ein unerfüllbares Ideal ist, eine Halluzination<br />

von Befehl und Kontrolle und eine Illusion von<br />

Beherrschung. Mir ist klar geworden, dass diese Erfahrung<br />

– die absurde, hin<strong>der</strong>liche Angst, dass Mensch<br />

nicht Mann genug, nicht Femme genug o<strong>der</strong> queer<br />

genug sei –, diese ungewisse Verletzbarkeit etwas ist,<br />

was alle Menschen gemeinsam haben. Und die Vorstellung<br />

von männlicher Macht wird für alle Männer<br />

flüchtig bleiben, egal ob ihnen das Mannsein bei <strong>der</strong><br />

Geburt zugewiesen wurde o<strong>der</strong> nicht.<br />

SA: In Seek Bromance verfolgen wir deine Beziehung zu<br />

deiner/deinem Filmpartner:in Cade, einer/einem brasilianischen<br />

Künstler:in, die/<strong>der</strong> sich zu Beginn <strong>der</strong> Dreharbeiten<br />

noch als transmaskulin und heute als nonbinär<br />

identifiziert – im Englischen wäre das Pronomen they/<br />

them, während du he/him bevorzugst, was auch Cade<br />

anfangs tat. Im Deutschen fehlt uns die Sprache, um<br />

das angemessen auszudrücken. Du fragst Cade an einer<br />

Stelle: »Wie erlebst du Männer?«. Wie würdest du diese<br />

Frage beantworten?<br />

SE: Ich bin skeptisch gegenüber <strong>der</strong> Idee von Charaktertypen.<br />

Aber im Mannsein gibt es definitiv einen<br />

selbstzerstörerischen Aspekt, eine scheinbar unlösbare<br />

Krise <strong>der</strong> Männlichkeit. Ich habe etwa zehn Jahre<br />

meines Lebens damit verbracht, immer wie<strong>der</strong> Männer<br />

zu filmen. Und es gibt einen weichen Ort für sie in<br />

meinem Herzen, hoffnungsvoll und amüsiert. Ich habe<br />

mich oft als Vertrauensperson von Männern erlebt.<br />

Denn wenn eine Frau etwas sehr Persönliches mit dir<br />

teilt, weißt du, dass sie es wahrscheinlich auch an<strong>der</strong>en<br />

Freund:innen erzählt hat. Wenn aber ein Mann dir<br />

etwas anvertraut, hört er sich oft zum ersten Mal dabei<br />

zu, solche Dinge auszusprechen. Das war mir immer<br />

sehr wertvoll, diese Zeug:innenschaft für Dinge, die<br />

zum ersten Mal ans Licht <strong>der</strong> Welt kommen. Es hat<br />

mich erkennen lassen, dass Männer we<strong>der</strong> den Raum<br />

noch die Sprache für diese Dinge haben.<br />

Als ich das erste Mal mit einer Freundin über meine<br />

Transition sprach, sagte sie: »Ist es nicht ein bisschen<br />

abgefuckt, jetzt ein Mann werden zu wollen?« – »Ist es<br />

nicht revolutionär?«, antwortete ich: »Denn du kannst<br />

<strong>der</strong> Mann werden, von dem du dir wünschst, dass es<br />

ihn gäbe.« Darauf sagte sie: »Ja, aber du willst doch<br />

dein Leben nicht als ein Beispiel leben. Widme deine<br />

Existenz nicht <strong>der</strong> Rolle als Vorbild.«<br />

Allerdings sehe ich mich mehr als transmaskulines<br />

Wesen denn als Mann. Und schon dieser Schritt Richtung<br />

Männlichkeit birgt eine Menge Verantwortung.<br />

Cis-Männer sind in <strong>der</strong> Regel keine guten Beispiele<br />

für Männlichkeit, sie erscheinen oft etwas hoffnungslos<br />

o<strong>der</strong> lächerlich – und unwillig, sich weiterzuentwickeln.<br />

Also spüre ich als transmaskuline Person eine<br />

Bürde, es besser zu machen, während ihre Krise noch<br />

auf eine Revolution wartet.<br />

Was ist denn im Jahr <strong>2022</strong> bitte eine glaubwürdige Art<br />

<strong>der</strong> Männlichkeit? Ich sehe Männer an einem Scheideweg;<br />

es gibt einfach keine guten Vorbil<strong>der</strong> für Männlichkeit.<br />

Dennoch glaube ich fast nichts mehr von dem,<br />

was ich mal über Männer dachte. Ich habe tatsächlich<br />

angefangen, sie besser zu verstehen, seit ich Testosteron<br />

nehme.<br />

Ich habe auch herausgefunden, dass Transmaskulinität<br />

nicht gegen toxische Männlichkeit immunisiert. Es<br />

ist tatsächlich leicht, wenn nicht gar verführerisch, diese<br />

Rolle anzunehmen – es fühlt sich beinahe wie eine<br />

Karikatur an, wenn du das tust. Ich sollte klarstellen:<br />

Nicht Testosteron lässt dich toxisch werden, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Druck, stereotype Männlichkeit zu performen.<br />

Um als Mann »durchzugehen«, ist <strong>der</strong> direkteste Weg<br />

das Performen klischeehafter Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Tropen, von<br />

denen die meisten pathetische, erbärmliche und peinliche<br />

Darstellungen falscher Dominanz sind.<br />

Im besten Fall kann Transmaskulinität ein Zukunftsentwurf<br />

von Männlichkeit sein. Und im schlechtesten ahmt<br />

sie <strong>der</strong>en Scheitern nach, wie<strong>der</strong>holt schädliche Muster<br />

in einem fehlgeleiteten Bedürfnis nach Legitimität.<br />

SA: Etwas, worüber wir noch nicht gesprochen haben und<br />

was mich sehr interessiert, ist <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Selbsterfindung,<br />

<strong>der</strong> körperlichen Modifikation durch technologische<br />

Möglichkeiten: Bioengineering. Cade spricht an einer Stelle<br />

von einem Spiel, sein eigener Avatar zu werden. Kannst<br />

du mehr dazu sagen?<br />

SE: Ich nähere mich dem Konzept <strong>der</strong> Selbstgestaltung<br />

gern wie dem Schreiben von Drehbüchern. Denn<br />

du hast die Kontrolle darüber, wie dein »authentisches«<br />

Selbst sein soll. Doch während ich überzeugt<br />

bin, dass Biologie kein Schicksal ist, können wir <strong>der</strong><br />

Tatsache nicht entfliehen, dass wir im Wesentlichen<br />

ein chemisches Gebräu sind. Unsere Körper, Gedanken<br />

und Persönlichkeiten sind diesem chemischen<br />

Verhältnis fast vollständig unterworfen, das wir aber<br />

beeinflussen können. Wenn du die Chemie verän<strong>der</strong>st,<br />

verän<strong>der</strong>st du auch die Person. Die Gesellschaft hat<br />

die Vorstellung von einem cleanen, von Substanzen<br />

unbeeinflussten Körper geschaffen, doch das ist eine<br />

Fiktion – die chemische Mischung ist immer aus dem<br />

Gleichgewicht, wir sind nie neutral. Deshalb habe ich<br />

nach dem ersten Jahr meine Dosis verringert, um herauszufinden,<br />

wie viel von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung in Geist und<br />

Charakter mit <strong>der</strong> Substanz und wie viel mit meiner<br />

Umwelt und meinem neuen Platz darin zusammenhängt.<br />

Denn ein großer Teil des Transition-Prozesses<br />

ist von sozialer Natur. Wie viel kann sich tatsächlich<br />

verän<strong>der</strong>n, wenn du im Lockdown allein in Jogginghosen<br />

Hormone nimmst? An<strong>der</strong>e spiegeln uns – und<br />

die Art und Weise, wie an<strong>der</strong>e uns reflektieren, prägt<br />

unser Selbstgefühl viel stärker, als sich die meisten<br />

Menschen bewusst machen.<br />

Ein Begriff, mit dem ich viel anfangen kann ist »psychologisch<br />

androgyn«, <strong>der</strong> Ausdruck gefällt mir. Er löst das<br />

Konzept aus <strong>der</strong> physischen Welt des »Darstellens«<br />

o<strong>der</strong> des Scheins und überführt ihn in eine Metaebene<br />

des »Seins«. Ich glaube, <strong>der</strong> Begriff entspricht am genauesten<br />

meinem Blick auf mich selbst. O<strong>der</strong> »maßgeschnei<strong>der</strong>te<br />

Geschlechtsidentität« – das passt besser<br />

als Nonbinarität. Die schöpferische Macht liegt hier<br />

bei <strong>der</strong> Person selbst. Anstatt zu sagen: »Das ist eben,<br />

was ich bin«, sagst du »Das ist, wer ich sein möchte,<br />

wie ich mich gestalte«. Ich frage mich oft, ob <strong>der</strong><br />

Begriff »nichtbinär« irgendwann veraltet klingen wird.<br />

Denn wenn wir einmal anerkannt haben, dass es mehr<br />

als nur zwei Geschlechter gibt, bedeutet das, dass nie­<br />

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