Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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nen zu tanzen, in <strong>der</strong> Hoffnung, dass sich etwas in ihrem<br />
Bewusstsein erweitern würde. Dass ihr Verstand die vertrauten<br />
Grenzen <strong>der</strong> Erkenntnis überschreitet.<br />
*<br />
Ich weiß, dass ich ohne etwas Lektüre kein Drehbuch für<br />
die Gruppe schreiben kann. Ich lese Harari, Hobbes und<br />
Meillassoux. Die Pandemie entspannt sich ein wenig und<br />
die Ärztin legt einen Termin für den Eingriff fest. Flüge aus<br />
Washington sind weiterhin ausgesetzt. Ich gehe allein ins<br />
Krankenhaus. Meinen Kindle mit Hope in the Dark von<br />
Solnit nehme ich mit. Was für ein Paradox – seit vielen<br />
Wochen arbeite ich von morgens bis abends an einem<br />
Drehbuch über eine Gruppe, die überhaupt nicht gearbeitet<br />
hat. Während ich die Ideen zur neuen Sensibilität,<br />
zum Feingefühl gegenüber sich selbst, zum Untergraben<br />
<strong>der</strong> kapitalistischen Indikatoren von Erfolg verinnerliche,<br />
schalte ich, eine halbe Stunde nachdem ich aufwache,<br />
meinen Kindle an. Die Buchstaben springen vor meinen<br />
Augen hin und her, aber ich gebe nicht auf. Ich lese weiter.<br />
Nach zwei Stunden erscheint die Aufschrift »book<br />
completed«. Ich gehe zu den Krankenschwestern und erkläre,<br />
dass ich nun entlassen werden kann. Sie schlagen<br />
vor, dass ich noch ein paar Stunden bleiben solle, aber ich<br />
bestehe darauf, dass sie mich gehen lassen. Ich sage, es<br />
ginge mir gut, obwohl mir immer noch schwindelig ist.<br />
*<br />
Nichts, worüber Łukasz mir erzählt und was ich selbst<br />
schlussfolgere, während ich die Geschichte <strong>der</strong> Gruppe<br />
kennenlerne, überzeugt mich. Vielleicht bin ich eine<br />
Pessimistin, vielleicht hochnäsig und halte den Rest <strong>der</strong><br />
Menschheit für dümmer als mich. Ich glaube nicht, dass<br />
die Erfahrung, die die Gruppe sucht und versucht, mithilfe<br />
eines Drehbuchs einzuprogrammieren, etwas Beson<strong>der</strong>es<br />
und Schönes sei. Es riecht ein bisschen nach New Age,<br />
ein bisschen nach 68ern, jedenfalls nach nichts Frischem.<br />
Ich lese philosophische Bücher über die Technokultur.<br />
Über in Trance verbundene Körper. Über die Energie des<br />
Beats, <strong>der</strong> die Grenzen des Kapitalismus ausdehnt. Ich<br />
habe den Eindruck, dass diese Bücher von einem Algorithmus<br />
geschrieben wurden, <strong>der</strong> seinen Satzbau mit<br />
Subjekt und Prädikat aus Büchern von Foucault, Deleuze<br />
und Lacan erlernt hat. Dieses Doppel-Gemoppel, das ich<br />
in großen Mengen aufnehme, denn Weichheit, Feingefühl<br />
und es mir herauszunehmen, nur dann zu arbeiten, wenn<br />
ich Lust dazu habe, empfinde ich als Schwäche. Ich versuche<br />
diese tanzenden Menschen zu beschreiben, die an die<br />
Magie <strong>der</strong> Gemeinschaft und die multidirektionale Liebe<br />
glauben, während ich allein in einer Einzimmerwohnung<br />
sitze und mir ein Regime auferlege: jeden Tag ein Dutzend<br />
Seiten des Skripts zu schreiben. Ich fühle mich wie ein<br />
Elefant, <strong>der</strong> versucht, durch einen Porzellanladen zu gehen<br />
– ohne eine einzige Tasse zu zerschlagen.<br />
*<br />
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