15.06.2022 Aufrufe

Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

nen zu tanzen, in <strong>der</strong> Hoffnung, dass sich etwas in ihrem<br />

Bewusstsein erweitern würde. Dass ihr Verstand die vertrauten<br />

Grenzen <strong>der</strong> Erkenntnis überschreitet.<br />

*<br />

Ich weiß, dass ich ohne etwas Lektüre kein Drehbuch für<br />

die Gruppe schreiben kann. Ich lese Harari, Hobbes und<br />

Meillassoux. Die Pandemie entspannt sich ein wenig und<br />

die Ärztin legt einen Termin für den Eingriff fest. Flüge aus<br />

Washington sind weiterhin ausgesetzt. Ich gehe allein ins<br />

Krankenhaus. Meinen Kindle mit Hope in the Dark von<br />

Solnit nehme ich mit. Was für ein Paradox – seit vielen<br />

Wochen arbeite ich von morgens bis abends an einem<br />

Drehbuch über eine Gruppe, die überhaupt nicht gearbeitet<br />

hat. Während ich die Ideen zur neuen Sensibilität,<br />

zum Feingefühl gegenüber sich selbst, zum Untergraben<br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Indikatoren von Erfolg verinnerliche,<br />

schalte ich, eine halbe Stunde nachdem ich aufwache,<br />

meinen Kindle an. Die Buchstaben springen vor meinen<br />

Augen hin und her, aber ich gebe nicht auf. Ich lese weiter.<br />

Nach zwei Stunden erscheint die Aufschrift »book<br />

completed«. Ich gehe zu den Krankenschwestern und erkläre,<br />

dass ich nun entlassen werden kann. Sie schlagen<br />

vor, dass ich noch ein paar Stunden bleiben solle, aber ich<br />

bestehe darauf, dass sie mich gehen lassen. Ich sage, es<br />

ginge mir gut, obwohl mir immer noch schwindelig ist.<br />

*<br />

Nichts, worüber Łukasz mir erzählt und was ich selbst<br />

schlussfolgere, während ich die Geschichte <strong>der</strong> Gruppe<br />

kennenlerne, überzeugt mich. Vielleicht bin ich eine<br />

Pessimistin, vielleicht hochnäsig und halte den Rest <strong>der</strong><br />

Menschheit für dümmer als mich. Ich glaube nicht, dass<br />

die Erfahrung, die die Gruppe sucht und versucht, mithilfe<br />

eines Drehbuchs einzuprogrammieren, etwas Beson<strong>der</strong>es<br />

und Schönes sei. Es riecht ein bisschen nach New Age,<br />

ein bisschen nach 68ern, jedenfalls nach nichts Frischem.<br />

Ich lese philosophische Bücher über die Technokultur.<br />

Über in Trance verbundene Körper. Über die Energie des<br />

Beats, <strong>der</strong> die Grenzen des Kapitalismus ausdehnt. Ich<br />

habe den Eindruck, dass diese Bücher von einem Algorithmus<br />

geschrieben wurden, <strong>der</strong> seinen Satzbau mit<br />

Subjekt und Prädikat aus Büchern von Foucault, Deleuze<br />

und Lacan erlernt hat. Dieses Doppel-Gemoppel, das ich<br />

in großen Mengen aufnehme, denn Weichheit, Feingefühl<br />

und es mir herauszunehmen, nur dann zu arbeiten, wenn<br />

ich Lust dazu habe, empfinde ich als Schwäche. Ich versuche<br />

diese tanzenden Menschen zu beschreiben, die an die<br />

Magie <strong>der</strong> Gemeinschaft und die multidirektionale Liebe<br />

glauben, während ich allein in einer Einzimmerwohnung<br />

sitze und mir ein Regime auferlege: jeden Tag ein Dutzend<br />

Seiten des Skripts zu schreiben. Ich fühle mich wie ein<br />

Elefant, <strong>der</strong> versucht, durch einen Porzellanladen zu gehen<br />

– ohne eine einzige Tasse zu zerschlagen.<br />

*<br />

173

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!