Gesetz ohne Gott
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5.2 Die menschliche Natur im Zweifel des Historismus<br />
„Es wurde auf diesen Blättern mehrmals hervorgehoben, dass die Natur eine gesellschaftliche<br />
Kategorie ist.“ 383 Was Georg Lukács in seinem Aufsatz zur Verdinglichung herausstellt,<br />
indem er Hegels Kritik an Fichtes atomistischem Staatsmodell aufgreift, wurde auch in den<br />
Blättern anderer hervorgehoben. So schreibt Borkenau, der den Menschen als<br />
gesellschaftliches Wesen bestimmt, im Eingang seiner Studie zum Übergang vom feudalen<br />
zum bürgerlichen Weltbild: „Wir setzen die Frage beiseite, ob es allgemeinmenschliche<br />
apriorische Kategorien gibt. Für uns ist nur wichtig, dass alle Erfahrung vor allem der<br />
Formung durch historisch wechselnde Kategorien unterliegt.“ 384<br />
Dieser Zweifel an apriorischen Kategorien führt über in ein historistisches Verständnis von<br />
Geschichte. Karl Mannheim ersetzt den Gedanken „von der Identität, der ewigen<br />
Selbstgleichheit und Apriorität der formalen Bestimmungen der Vernunft“ durch die<br />
Vorstellung einer Entwicklung von Gesellschaften als organischen Ganzheiten, durch die<br />
Überzeugung eines Fliessens und Werdens, eines Allwandels von Lebenstotalitäten, dessen<br />
385<br />
inneres Prinzip die historistische Lehre herauszuarbeiten hat. Das Primat der Dynamik vor<br />
der Statik, das Mannheims gesamten Artikel durchzieht, nimmt auch Friedrich Meinecke zum<br />
Ausgangspunkt seiner Aufsatzsammlung Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der<br />
Geschichte: „Es gibt nichts Festes und in sich Abgeschlossenes mehr, es ist alles im<br />
Flusse.“ 386<br />
Mannheim wie Meinecke sehen im Historismus nicht eine auf den Kreis der Wissenschaft<br />
beschränkte Modeströmung, sondern – in direkter Konsequenz und Anwendung des<br />
historistischen Grundgedankens – eine organisch gewachsene Weltanschauung, ein<br />
Lebensprinzip des modernen Menschen, welches das aufklärerische Bild einer überzeitlichen<br />
Vernunft abgelöst hat und aus dem der Historismus als Wissenschaftsprinzip überhaupt erst<br />
387<br />
entspringen konnte. Als wissenschaftliche Methode gilt beiden ein intuitives Verstehen, ein<br />
seelisches Einfühlen in die historischen Gegenstände, wobei, wie Mannheim betont, die<br />
Untersuchung auf individuelle Totalitäten des eigenen Kulturkreises beschränkt bleiben muss,<br />
da anders der organische Zusammenhang zwischen einer früheren Epoche und dem Standort<br />
383<br />
Georg Lukács: „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“, in: Frühschriften II: Geschichte<br />
und Klassenbewusstsein, Neuwied/Berlin: Hermann Luchterhand 1968, S. 257-397, 309.<br />
384<br />
Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 16.<br />
385<br />
Vgl. Karl Mannheim: „Historismus“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 52 H. 1 (1924),<br />
S. 1-60, 9 sowie ebd., S. 3-5 und 20. Vgl. auch S. 49f., wo Mannheim Lukács’ Geschichte und<br />
Klassenbewusstsein und hier insbesondere den Aufsatz zur Verdinglichung als Beispiel dafür anführt, wie der<br />
Historismus das zeitgenössische Denken beherrschte.<br />
386<br />
Friedrich Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, Leipzig: Koehler & Amelang<br />
1939, S. 9f.<br />
387<br />
Vgl. ebd., S. 95f. bzw. Mannheim: „Historismus“, S. 2.<br />
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