Gesetz ohne Gott
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Gesetz ohne Gott
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Entfaltungsort der Billigkeit. Mag der Buchstabe aufgrund semantischer Unschärfen in<br />
verschiedene Richtungen weisen, bleibt der Sinn des <strong>Gesetz</strong>es eindeutig und Hobbes sucht<br />
nachzuweisen, weshalb dieser Sinn in Richtung Billigkeit zu denken ist: „Nun nimmt man<br />
immer an, die Absicht des <strong>Gesetz</strong>gebers sei Billigkeit, denn es wäre eine grosse Beleidigung,<br />
wenn ein Richter vom Souverän anders dächte.“ 151 Wo der Wortlaut des <strong>Gesetz</strong>es keinen<br />
vernünftigen Urteilsspruch zulässt, hat ihn der Richter deshalb durch das natürliche <strong>Gesetz</strong> zu<br />
ergänzen. 152<br />
Wenn Christoph Menke vorschlägt, „Billigkeit (als Übersetzung von epieikeia) als die<br />
Tugend, genereller: als die Haltung angemessener <strong>Gesetz</strong>esanwendung zu verstehen“ und<br />
damit das Streben meint, die formale Allgemeinheit des <strong>Gesetz</strong>es an den konkreten Fall<br />
anzupassen, so ist dem im Hinblick auf den Hobbesschen Billigkeitsbegriff grundsätzlich<br />
zuzustimmen und allenfalls hinzuzufügen, dass das natürliche <strong>Gesetz</strong> in seiner Gesamtheit die<br />
153<br />
Richtschnur dieser Anpassung gibt. Denn am ehesten lässt sich das Phänomen der<br />
Billigkeit, wie es bei Hobbes aufscheint, als das Postulat verstehen, das bürgerliche<br />
<strong>Gesetz</strong>eswesen in stetem Einklang mit den natürlichen Vernunftgesetzen zu gestalten:<br />
Billigkeit heisst, das bürgerliche <strong>Gesetz</strong> gemäss dem natürlichen anzuwenden und mehr noch:<br />
es, wenn auch allmählich nur, zum natürlichen umzuwenden. Eine solche Definition würde<br />
auch erklären, weshalb Hobbes den Begriff der natürlichen Billigkeit mit den Begriffen der<br />
natürlichen Vernunft und des natürlichen <strong>Gesetz</strong>es in äusserste Engführung bringt. 154<br />
Einen Vorrang entfaltet das natürliche <strong>Gesetz</strong> der Billigkeit dadurch, dass Setzung und<br />
Anwendung des bürgerlichen <strong>Gesetz</strong>es in ihm – und d.h. nach obigen Ausführungen: in den<br />
natürlichen <strong>Gesetz</strong>en im Allgemeinen – ihr inhaltliches Mass finden. Wo sie dies nicht tun,<br />
werden ihrer Geltung Grenzen gesetzt. Wird durch den Souverän oder in seiner Ermächtigung<br />
ein Urteil gefällt, das den geltenden bürgerlichen <strong>Gesetz</strong>en widerspricht, erfahren diese, da sie<br />
veränderlich sind, eine Revision; ein Urteil, das den natürlichen <strong>Gesetz</strong>en widerspricht,<br />
vermag sich dagegen nicht als <strong>Gesetz</strong> zu etablieren:<br />
„Denn obwohl ein falsches Urteil, falls es in Kenntnis und mit Erlaubnis des Souveräns kraft<br />
dessen Autorität gefällt wird, bei veränderlichen <strong>Gesetz</strong>en den Erlass eines neuen <strong>Gesetz</strong>es für<br />
die Fälle bedeuten mag, bei denen jeder kleine Umstand gleichgeartet ist, so sind dennoch<br />
151 Ebd., S. 215.<br />
152 Vgl. ebd. Während Hobbes die aristotelische Tugendlehre im Allgemeinen einer entschiedenen Kritik<br />
unterzieht, hält er sich an dieser Stelle eng an die Beschreibung des Phänomens der Billigkeit (ἐπιείκεια) bei<br />
Aristoteles. Im fünften Buch der Nikomachischen Ethik, das sich den Formen der Gerechtigkeit widmet,<br />
charakterisiert Aristoteles das Billige (τὸ ἐπιεικές) als ein Gerechtes, das nicht nach dem <strong>Gesetz</strong> geht, sondern als<br />
Berichtigung des gesetzlich Gerechten fungiert („τὸ ἐπιεικὲς δίκαιον μέν ἐστιν, οὐ τὸ κατὰ νόμον δέ, ἀλλ’<br />
ἐπανόρθωμα νομίμου δικαίου“); Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1137 b.<br />
153 Vgl. Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit (Polis, Bd. 2), Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 175.<br />
154 Vgl. dazu Hobbes: Leviathan, 1991, S. 209-213, insbesondere aber die Formulierung auf S. 210: „nach dem<br />
natürlichen <strong>Gesetz</strong>, das heisst nach allgemeinen Billigkeitsgrundsätzen“.<br />
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