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Gesetz ohne Gott

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des Historikers fehlt, was Verstehen unmöglich macht. 388 Die Annahme eines ständigen<br />

Wandels lässt jede Erscheinung als geschichtlich und jede geschichtliche Erscheinung als<br />

singulär in den Blick treten. Natur und Vernunft des Menschen hält Meinecke für variabler<br />

und entwicklungsfähiger, als die überkommene naturrechtliche Denkweise es annehme: „Die<br />

entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise, verbunden mit dem Sinn für den<br />

individuellen Charakter des Menschen und der menschlichen Gebilde, hat dem alten<br />

dogmatischen Naturrecht den Boden entzogen.“ 389<br />

Das Anliegen, der Naturrechtslehre über die Stärkung des historischen Bewusstseins den<br />

Boden zu entziehen, hatte im 19. Jahrhundert insbesondere der Exponent der Historischen<br />

Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, vertreten. Der bei Meinecke titelgebende<br />

„geschichtliche Sinn“ liefert bereits hier das Instrument, das die Lehre vom Naturrecht als<br />

ungeschichtlichen Unsinn erweisen soll:<br />

„Auch ist der geschichtliche Sinn der einzige Schutz gegen eine Art der Selbsttäuschung, die<br />

sich in einzelnen Menschen, wie in ganzen Völkern und Zeitaltern, immer wiederholt, indem<br />

wir nämlich dasjenige, was uns eigen ist, für allgemein menschlich halten. So hatte man<br />

ehemals aus den Institutionen mit Weglassung einiger hervorstehenden [sic]<br />

Eigenthümlichkeiten ein Naturrecht gemacht, was man für unmittelbaren Ausspruch der<br />

Vernunft hielt: jetzt ist niemand, der nicht über dieses Verfahren Mitleid empfände, aber wir<br />

sehen noch täglich Leute, die ihre juristischen Begriffe und Meynungen blos deshalb für rein<br />

vernünftig halten, weil sie deren Abstammung nicht kennen. Sobald wir uns nicht unsres<br />

individuellen Zusammenhangs mit dem grossen Ganzen der Welt und ihrer Geschichte bewusst<br />

werden, müssen wir nothwendig unsre Gedanken in einem falschen Lichte von Allgemeinheit<br />

und Ursprünglichkeit erblicken.“ 390<br />

Savigny geht davon aus, dass das Recht gleich der Sprache in organischem Zusammenhang<br />

mit dem Wesen eines Volkes stehe, mit ihm wachse und vergehe. 391 Dieses organische<br />

Werden vollzieht sich jenseits von Willkür und Absicht einer gesetzgeberischen Autorität. 392<br />

Nach zwei Seiten hin wird dadurch das Recht in die Geschichte hineingeholt: zum einen<br />

gegenüber dem Rechtsetzungsanspruch einer abstrakten, individualistischen Vernunft, zum<br />

anderen gegenüber dem Macht- und Ordnungswillen einer politischen Instanz. 393<br />

Der<br />

Jurisprudenz stellt sich die Aufgabe, die im <strong>Gesetz</strong> wirkenden leitenden Grundsätze<br />

388<br />

Vgl. Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 56f. bzw. Mannheim:<br />

„Historismus“, S. 25f.<br />

389<br />

Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 50.<br />

390<br />

Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unsrer Zeit für <strong>Gesetz</strong>gebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg:<br />

bey Mohr und Zimmer 1814, S. 115. Savignys Einwand, dass das Naturrecht sich einer unkritischen Abstraktion<br />

verdanke, zeigt die Nähe zu Hegel. Dass Hegels Kritik an der empirischen Behandlungsart des Naturrechts in<br />

vielen Punkten Savignys Argumente vorwegnimmt, vermerkt auch Herbert Schnädelbach: „Über historistische<br />

Aufklärung“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, H. 2 (1979), S. 17-36, 30.<br />

391<br />

Vgl. Savigny: Vom Beruf unsrer Zeit für <strong>Gesetz</strong>gebung und Rechtswissenschaft, S. 11.<br />

392<br />

Vgl. ebd., S. 13f.<br />

393<br />

Vgl. dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Historische Rechtsschule und das Problem der<br />

Geschichtlichkeit des Rechts“, in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und<br />

Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 9-41, 13f.<br />

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