Gesetz ohne Gott
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sind die Merkmale des Menschen in der bürgerlich-frühkapitalistischen Gesellschaft: „Die<br />
anfängliche kontrafaktische Abstraktion, von der der Theoretiker ausgeht, ist keine<br />
Begründung, sondern eine Illustration des Begriffs vom Menschen, den er selbst<br />
gutheisst.“ 361<br />
Eine solche über sozialhistorische Situierung verlaufende Relativierung neuzeitlicher<br />
Naturrechtstheorien, die sich bei Hegel ankündigt, wurde im 20. Jahrhundert insbesondere<br />
von Franz Borkenau aufgenommen. Als Grundkategorie der modernen Staatslehre markiert<br />
Borkenau den Begriff der Souveränität, der die ständische Rangordnung unberücksichtigt<br />
lässt und insofern dem Aufkommen der kapitalistischen Gesellschaft ihren politischen<br />
362<br />
Ausdruck gibt. Die Eigenart von Hobbes’ Staatslehre sieht Borkenau nicht darin, dass er<br />
die Souveränität verficht, sondern dass er sie in einer bürgerlichen Nation mit durchwegs<br />
bürgerlichen Argumenten zu stützen sucht. 363 Als Ort, von dem aus diese innerweltliche<br />
Souveränitätstheorie entwickelt wird, bestimmt er die konservative Bourgeoisie: „Hobbes<br />
muss als Ideologe des bewusstest bürgerlichen Teils der landed gentry angesprochen<br />
werden.“ 364<br />
Im Rahmen dieser sozialen Kontextualisierung stellt Borkenau ähnlich wie Hegel<br />
und aufbauend auf Marx eine Abhängigkeit der individualistischen Naturzustandstheorie von<br />
den zeitgenössischen Produktionsverhältnissen fest:<br />
„Hobbes’ ‚bellum omnium in omnes’ entsteht aus einer Vermischung der Züge des<br />
Konkurrenzkampfes mit denen des Klassenkampfes. Vom Klassenkampf ist das unbegrenzte<br />
Machtstreben übriggeblieben, aber der Klassenkampf ist auf das Niveau des<br />
Konkurrenzkampfes heruntergebracht, wo es nur individuelle Interessen und zwar nur<br />
individuelle materielle Interessen gibt.“ 365<br />
Auf die Geburt des Naturzustands aus dem Geist der Bourgeoisie wurde auch in jüngerer Zeit<br />
hingewiesen. In seinem Aufsatz „Die regulative Idee des Menschenrechts“ stellt Hans Heinz<br />
Holz die Genealogie der naturrechtlichen Formulierung der Menschenrechte in ihrer<br />
Verknüpfung mit dem Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft dar:<br />
361<br />
Benhabib: Kritik, Norm und Utopie, S. 20.<br />
362<br />
Vgl. Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der<br />
Philosophie der Manufakturperiode, unveränd. reprograf. Nachdr. d. Ausg. Paris 1934, Darmstadt:<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 100.<br />
363<br />
Vgl. ebd., S. 442.<br />
364<br />
Ebd., S. 451.<br />
365<br />
Ebd., S. 463. Vgl. auch ebd., S. 439, wo Borkenau angibt, sich bei der Analyse von Hobbes’ Theorie von<br />
Marx’ materialistischer Methode leiten zu lassen und „[d]ie Lehre direkt aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />
abzuleiten.“ Ohne vom historischen Materialismus auszugehen, hat C. B. Macpherson 1962 in seiner Studie The<br />
Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke erneut eine soziale Kontextualisierung<br />
unternommen, die insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf breite Resonanz<br />
stiess. Auch Macpherson hebt darauf ab, dass Hobbes „sein Verständnis der historisch erworbenen Natur der<br />
Menschen in den bestehenden bürgerlichen Gesellschaften seiner Deduktion des Naturzustandes zugrunde“<br />
legte, so dass der Naturzustand nichts anderes sei als die zeitgenössischen Verhaltensweisen des Menschen unter<br />
Abzug einer souveränen <strong>Gesetz</strong>gebung; C. B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus.<br />
Von Hobbes bis Locke, übers. von Arno Wittekind, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 34f.<br />
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