Gesetz ohne Gott
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einem wissenschaftlichen Standpunkt“ über das Problem der Gerechtigkeit „und insbesondere<br />
über die Naturrechtslehre zu sagen ist.“ 193 Denn für ihn ist es gerade „die wiedererwachte<br />
Metaphysik der Naturrechtslehre“, welche, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik<br />
missachtend, ein inhaltliches Wertmass für das positive Recht bestimmen zu können glaubt<br />
und „mit diesem Anspruch dem Rechtspositivismus entgegentritt.“ 194<br />
Wie gezeigt wurde, ist es allerdings nicht weniger der Positivismus, der sich dem<br />
195<br />
Naturrecht entgegen aufbaut und sich dabei das Naturrecht als Gegner aufbaut. Von der<br />
Unmöglichkeit des Naturrechts ist Kelsen überzeugt; dessen Fehler veranschlagt er darin,<br />
vom Sein zum Sollen zu schreiten. 196 Weil nach Kelsen aus einer Seins-Tatsache keine Soll-<br />
Norm resultiert, Normativität nicht aus Faktizität zu gewinnen ist, kann die Geltung einer<br />
Norm nur aus einer anderen und höheren folgen. 197 Da diese erneut auf einer ihr gegenüber<br />
höheren beruht, ergibt sich eine fortschreitende Begründungsbewegung und mit ihr der<br />
Stufenbau der Rechtsordnung. 198<br />
In einem infiniten Regress droht der Bau allerdings in<br />
haltloses Wanken zu geraten, wenn die Jurisprudenz nicht einen Riegel schiebt:<br />
„Wie erwähnt, ist die Norm, die den Geltungsgrund einer anderen Norm darstellt, dieser<br />
gegenüber eine höhere Norm. Aber die Suche nach dem Geltungsgrund einer Norm kann nicht,<br />
wie die Suche nach der Ursache einer Wirkung, ins Endlose gehen. Sie muss bei einer Norm<br />
enden, die als letzte, höchste vorausgesetzt wird. Als höchste Norm muss sie vorausgesetzt sein,<br />
da sie nicht von einer Autorität gesetzt sein kann, deren Kompetenz auf einer noch höheren<br />
Norm beruhen müsste. Ihre Geltung kann nicht mehr von einer höheren Norm abgeleitet, der<br />
Grund ihrer Geltung nicht mehr in Frage gestellt werden. Eine solche als höchste vorausgesetzte<br />
Norm wird hier als Grundnorm bezeichnet.“ 199<br />
Der „Geltungsgrund einer positiven Rechtsordnung, das ist einer im Wege von <strong>Gesetz</strong>gebung<br />
oder Gewohnheit erzeugten, im grossen und ganzen wirksamen Zwangsordnung“, liegt in der<br />
vorausgesetzten Grundnorm, „dass man sich so verhalten soll, wie die historisch erste<br />
Verfassung, der gemäss die positive Rechtsordnung erzeugt ist, vorschreibt.“ 200<br />
Seine<br />
Gültigkeit bezieht das positive Recht daraus, dass es sich demjenigen Prozess verdankt, den<br />
die geltende Verfassung, deren Einsetzung sich über dazwischen liegende Verfassungen bis<br />
auf die historisch erste Verfassung zurückführen lässt, für die positive Rechtserzeugung<br />
193<br />
Ebd., S. VIII.<br />
194<br />
Ebd.<br />
195<br />
Auf die antinaturrechtlichen Wurzeln des Positivismus hat Carl Schmitt hingewiesen: „Für die<br />
Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bedeutete „Positivismus“ zunächst etwas Polemisches: die Ablehnung<br />
alles ‚aussergesetzlichen’, alles nicht durch menschliche Satzung geschaffenen Rechts, mag es als göttliches,<br />
natürliches oder vernünftiges Recht auftreten.“ (Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen<br />
Denkens, S. 26.)<br />
196<br />
Vgl. Kelsen: Reine Rechtslehre, S. 227 sowie ders.: Allgemeine Staatslehre, Berlin: Julius Springer 1925, S.<br />
251 und ders.: Was ist Gerechtigkeit?, Wien: Franz Deuticke 1953, S. 38.<br />
197<br />
Vgl. ders.: Reine Rechtslehre, S. 196.<br />
198<br />
Vgl. ebd., S. 228.<br />
199<br />
Ebd., S. 197.<br />
200<br />
Ebd., S. 443.<br />
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