Gesetz ohne Gott
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Gesetz ohne Gott
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Menschen mehr noch als die Biene und andere Herdentiere als ein ζῷον πολιτικόν klassiert,<br />
geht Hobbes davon aus, dass die Menschen anders als Bienen und Ameisen gerade nicht zu<br />
den „politischen Lebewesen“ zählen. 79 Ihm zufolge ist die Übereinstimmung, in der sie leben,<br />
keineswegs natürlich, sondern wird künstlich über einen Vertrag hergestellt. Um der<br />
Übereinstimmung Bestand zu geben, muss der Vertrag eine allgemeine Gewalt vorsehen,<br />
welche die unterschiedlichen Interessen auf das Gemeinwohl hinlenkt. 80<br />
Nach Strauss hat die ältere Ansicht, wonach die Gesellschaft der Einzelperson vorausgehe,<br />
die Anschauung zur Folge, „dass die primäre moralische Tatsache die Pflicht und nicht die<br />
81<br />
Rechte seien.“ Im Umkehrschluss gelangt er von der Vorgängigkeit des Individuums auf die<br />
Vorrangstellung des Rechts. Wo die je eigene Selbsterhaltung das grundlegende Faktum des<br />
menschlichen Lebens darstellt, da tritt für Strauss die gesetzliche Verpflichtung hinter dem<br />
Recht zurück. Implizit setzt er damit voraus, dass das <strong>Gesetz</strong> sich auf andere richtet, während<br />
das Recht reflexiv auf seinen Träger weist.<br />
Hobbes hingegen wählt ein anderes Kriterium zur Trennung von Recht und <strong>Gesetz</strong>: Recht<br />
bedeutet Freiheit, <strong>Gesetz</strong> meint Pflicht – über die Richtung, in die <strong>Gesetz</strong> und Recht wirken,<br />
ist damit noch nichts gesagt. Wenn zwar die Freiheit des Rechts notwendig auf den<br />
Rechtsträger zurückweist, braucht die Pflicht nicht auf einen Anderen zuzulaufen, kann<br />
vielmehr auch reflexiv gedacht werden. Der Schluss, den Strauss von der Vorgängigkeit des<br />
Einzelnen zum Vorrang des Rechts führt, ist kein zwingender. Dass es einiges für sich hat,<br />
davon auszugehen, dass Hobbes seine Unterscheidung von Recht und <strong>Gesetz</strong> durchaus ernst<br />
nimmt und dass deshalb sein natürliches <strong>Gesetz</strong> als eigenständige Grösse in Betracht kommt,<br />
werde ich im Folgenden zu erweisen suchen.<br />
οὖν ἡ πόλις καὶ φύσει καὶ πρότερον ἢ ἕκαστος, δῆλον· εἰ γὰρ μὴ αὐτάρκης ἕκαστος χωρισθείς, ὁμοίως τοῖς ἄλλοις<br />
μέρεσιν ἕξει πρὸς τὸ ὅλον, ὁ δὲ μὴ δυνάμενος κοινωνεῖν ἢ μηδὲν δεόμενος δι’ αὐτάρκειαν οὐθὲν μέρος πόλεως,<br />
ὥστε ἢ θηρίον ἢ θεός.“<br />
(„Daraus ist also klar, dass die Polis zu den natürlichen Dingen gehört und dass der Mensch von Natur aus ein<br />
gemeinschaftsbildendes Lebewesen ist; und wer aufgrund seiner Natur und nicht wegen eines zufälligen<br />
Schicksals jenseits der Polis lebt, ist entweder schlecht oder mächtiger als ein Mensch; [...]. Dass aber der<br />
Mensch mehr als jede Biene und mehr als jedes Herdentier ein gemeinschaftsbildendes Lebewesen ist, liegt<br />
offen zutage. [...] Die Polis ist von Natur her auch ursprünglicher als die Hausgenossenschaft und als jeder<br />
Einzelne von uns. Denn das Ganze ist notwendig ursprünglicher als der Teil; [...]. Dass also die Polis sowohl von<br />
Natur besteht als auch ursprünglicher ist als der Einzelne, ist klar; denn wenn jeder für sich genommen sich<br />
selbst nicht genügt, so verhält er sich [zur Polis] wie die verschiedenen Teile zum Ganzen; wenn er aber unfähig<br />
ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein, oder wenn er es aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit nicht nötig hat, so ist<br />
er freilich nicht Teil einer Polis, demnach aber entweder ein Tier oder ein <strong>Gott</strong>.“, Übersetzung J.H.)<br />
79 Hobbes: Leviathan, 1991, S. 133. Hobbes übersetzt den aristotelischen Begriff nicht wie hier unternommen<br />
mit „gemeinschaftsbildendes Lebewesen“, sondern bedient sich des voraussetzungsreicheren Ausdrucks<br />
„Politicall creatures“; ders.: Leviathan, 1943, S. 130.<br />
80 Vgl. ders.: Leviathan, 1991, S. 133f. und ebenso die Stelle im 1. Kapitel von De Cive (Vom Menschen; Vom<br />
Bürger, S. 75f.), wo Hobbes die griechische Vorstellung einer ζῷον-πολιτικόν-Natur des Menschen als ein „trotz<br />
seiner weitverbreiteten Geltung“ falsches Axiom bezeichnet; „es ist ein Irrtum, der aus einer allzu<br />
oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur herrührt.“ Die „Anthropologie des unpolitischen<br />
Menschen“, welche die Hobbessche Konzeption von der aristotelischen unterscheidet, wird dargestellt in<br />
Wolfgang Kersting: Thomas Hobbes zur Einführung, 4., aktual. Aufl., Hamburg: Junius 2009, S. 20 und 27f.<br />
81 Strauss: Naturrecht und Geschichte, S. 190.<br />
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