Gesetz ohne Gott
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Derrida stellt heraus, dass das deutsche Wort „Gewalt“, dem für die in <strong>Gesetz</strong>eskraft<br />
unternommene Auseinandersetzung mit Benjamins Text „Zur Kritik der Gewalt“ tragende<br />
Bedeutung zukommt, beide Seiten der Unterscheidung bezeichnen kann: die legitime Macht<br />
nicht weniger als die Gewalt(tätigkeit), „die man immer für ungerecht hält“. 303 Wenn<br />
allerdings erstere auf letzterer beruht, so dass force nicht länger von violence geschieden<br />
bleibt, verliert das Recht unweigerlich das Kriterium, aufgrund dessen es Recht war. In<br />
Konsequenz kann auch ein Prädikat wie das der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr als<br />
Distinktionsmerkmal zur Abgrenzung von anderen politischen Formen dienen. Recht und<br />
Gewalt müssen zusammenfallen und dies nicht in dem Sinne, dass aus Gewalt Recht wird,<br />
sondern dass Recht Gewalt bleibt. Die erste Aporie der Unentscheidbarkeit knüpft sich an<br />
eine zweite und folgenreichere, die ich als die Aporie der Ununterscheidbarkeit bezeichne. 304<br />
305<br />
Solche Aporien bilden die bevorzugte Gegend der Dekonstruktion. Von der Aporie<br />
auszugehen, sie fruchtbar zu machen, <strong>ohne</strong> sie aufzulösen, ist das Unternehmen Derridas. Er<br />
nimmt die anfängliche Grundlosigkeit und die darauf beruhende Auto-Autorisation oder<br />
Selbstermächtigung des Rechts als Angelpunkt seiner Dekonstruktion. 306 Das Recht, das in<br />
seinem Anfang nicht begründbar und, da ihm andererseits auch kein Grund entgegensteht,<br />
nicht leicht verwerfbar ist, lässt sich von der Gerechtigkeit scheiden und von ihr her, die nicht<br />
dekonstruierbar ist, zwar nicht begründen, aber dekonstruieren: „Wenn es so etwas gibt wie<br />
die Gerechtigkeit als solche, eine Gerechtigkeit ausserhalb oder jenseits des Rechts, so lässt<br />
sie sich nicht dekonstruieren. Ebensowenig wie die Dekonstruktion selbst, wenn es so etwas<br />
gibt. Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit.“ 307 Dabei tritt sie nicht mit dem Anspruch auf,<br />
„ein be-gründendes Verfahren zu sein oder sich gegen die Be-gründung zu richten“ – denn<br />
darin könnte für Derrida nicht mehr liegen als ein Verkennen der grundlegenden Aporie;<br />
vielmehr destabilisiert sie hergebrachte Gegensätze wie denjenigen von νόμος und φύσις, von<br />
positivem Recht und Naturrecht. 308<br />
Was aber ist ihre konstruktive Leistung? Sie zeigt die Konstruierbarkeit und<br />
Konstruiertheit des Rechts, seine Geschichte, seine mögliche oder notwendige Veränderung,<br />
309<br />
und liefert damit den Hinweis auf die politische Chance historischen Fortschritts. Kann sie<br />
303<br />
Ebd., S. 12f.<br />
304<br />
Ebd., S. 46-59 stellt Derrida drei Aporien vor (1. Die Epoché der Regel, 2. Die Heimsuchung durch das<br />
Unentscheidbare, 3. Die Dringlichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt). Wenn ich die Aporien für<br />
meinen Zusammenhang von einer anderen Seite fasse und deshalb mit anderen Namen belege, so stütze ich mich<br />
auf Derridas eigene Feststellung, dass es sich im Grunde um eine einzige Aporie handle, „um ein einziges<br />
aporetisches Potential, das sich selbst unendlich verteilt.“ (Ebd., S. 44.)<br />
305<br />
Vgl. ebd., S. 44 sowie ebd., S. 16-18, wo Derrida im Problemfeld des Rechts, des <strong>Gesetz</strong>es und der<br />
Gerechtigkeit die eigentliche Heimat dekonstruktiven Fragens verortet.<br />
306<br />
Vgl. ebd., S. 29-31.<br />
307<br />
Ebd., S. 30.<br />
308<br />
Ebd., S. 17.<br />
309<br />
Vgl. ebd., S. 29f.<br />
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