Gesetz ohne Gott
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In der Distanzierung vom Vernunftbegriff besteht auch die wesentliche Differenz zwischen<br />
Hegel und den Historisten, welche mit Begriffen wie „organisch“, „Volksgeist“ oder<br />
„Totalität“ über ein gemeinsames Vokabular verfügen und damit zugleich die zentrale<br />
Vorstellung teilen, nach der Individuen stets an geschichtlich besonderte Kollektive gebunden<br />
sind. 402 Was die Idee des Fortschritts betrifft, so verwirft Meinecke zwar den am Massstab der<br />
Vernunft orientierten Entwicklungsbegriff, „den die naturrechtlich denkende Aufklärung von<br />
Voltaire an überhaupt vertrat“ 403 ; wenn er aber von der Entelechie jedes Staates spricht, von<br />
der Verwirklichung seines eigentümlichen, ihm innew<strong>ohne</strong>nden Ideals 404 , und wenn er ferner<br />
einen unbekannten Sinn der Geschichte im Ganzen annimmt, in ihr Richtung und Zweck<br />
erahnt 405 , so liegt darin eine implizite Vorstellung nicht nur von Fortschreiten, sondern von<br />
Fortschritt. Auch Karl Mannheim beschränkt sich nicht auf die Feststellung eines<br />
ungerichteten Wechsels der Dinge, sondern glaubt an ein Ordnungsprinzip und sucht nach<br />
einer innersten Struktur des Allwandels. In Konsequenz scheint ihm der „Sinn“ einer<br />
historischen Tatsache dadurch fassbar, dass sie ihren Platz innerhalb der dynamischen<br />
Totalität zugewiesen erhält. 406<br />
Im Hinblick auf die Historische Rechtsschule hat Ernst-Wolfgang Böckenförde darauf<br />
hingewiesen, dass die Vorstellung einer organischen Entwicklung des Rechts nach einem<br />
immanenten Prinzip und der damit verbundene Fortschrittsgedanke den Historismus eine<br />
407<br />
ungeschichtlich verfahrende Methode werden lässt. Wie das Naturrecht sucht diese<br />
geschichtliche Rechtsauffassung nicht eine Antwort auf eine historische Frage, sondern eine<br />
Lösung für das philosophische Problem der Rechtsbegründung. In dem sich geschichtlich<br />
entfaltenden Volksgeist findet das Recht nicht nur seinen Entstehungs-, sondern auch seinen<br />
Geltungsgrund. 408<br />
Das entelechische Moment von Savignys Volksbegriff wendet die Theorie<br />
von einer empirisch-soziologischen in eine metaphysische Richtung. Entsprechend eignet<br />
dem aus dem Volksgeist fliessenden und sich in dieser Emanation legitimierenden Recht<br />
Historisches zu begreifen lehrt, mit allen gegenaufklärerischen Folgen, die das haben mag.“ (Schnädelbach:<br />
„Über historistische Aufklärung“, S. 31.) Insofern „er Gegenaufklärung als Aufklärung der Aufklärung über sich<br />
selbst“ praktiziere, sei der Historismus seinerseits Aufklärung; ebd.<br />
402<br />
Norberto Bobbio zeigt, dass nicht nur der semantische Gehalt von „Volksgeist“ bei Hegel und den Historisten<br />
verschieden ist, sondern dass der Begriff bei letzteren dazu dient, den Vorrang der Gesellschaft vor dem Staat zu<br />
erweisen, während ersterer dem vernünftigen Staatswillen eine höhere Stellung einräumt; vgl. Bobbio: „Hegel<br />
und die Naturrechtslehre“, S. 85. Die Differenz zum Hegelschen Vernunftdenken erläutert sowohl Mannheim,<br />
der einen Gegensatz zwischen den rationalistisch eingestellten Hegelianern und den Irrationalisten der<br />
Historischen Schule markiert, als auch Meinecke, der sich explizit vom rationalistischen Hegelianismus<br />
abgrenzt; vgl. Mannheim: „Historismus“, S. 27-29 bzw. Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der<br />
Geschichte, S. 96f.<br />
403<br />
Meinecke: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 54f.<br />
404<br />
Vgl. ebd., S. 31.<br />
405<br />
Vgl. ebd., S. 5 und 22.<br />
406<br />
Vgl. Mannheim: „Historismus“, S. 4-6.<br />
407<br />
Vgl. Böckenförde: „Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts“, S. 17f.<br />
408<br />
Vgl. ebd., S. 12f.<br />
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