Gesetz ohne Gott
Gesetz ohne Gott
Gesetz ohne Gott
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört. Das heisst: sie will<br />
die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien. Das ist ihr methodisches<br />
Grundprinzip.“ 188<br />
„Bestimmen“ muss dabei, gleichviel ob Kelsen es selbst darauf anlegt, in seiner<br />
Doppeldeutigkeit von deskriptiver Erkenntnis und dezisionistischer Anordnung begriffen<br />
werden. 189 Wenn Kelsen auf der selben Seite vermerkt, dass seine Theorie „ausschliesslich<br />
und allein ihren Gegenstand erkennen“ wolle, so ist das nur die halbe Wahrheit. Dass sie<br />
einzig versucht, „die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage,<br />
wie es sein oder gemacht werden soll“, stösst hingegen, selbst wenn es Kelsens aufrichtige<br />
Überzeugung war, bereits an Unwahrheit. 190 Denn das Recht und die darum bemühte<br />
Wissenschaft sollen nach Kelsen rein sein von fremden Einflüssen, was sie, wie er selbst<br />
schreibt und wogegen er anschreibt, nicht sind. 191<br />
In seiner Rechtslehre haben wir denn auch<br />
nicht eine objektive Deskription dessen zu sehen, was realerweise Recht ist, sondern vielmehr<br />
ein kathartisches Unternehmen, das seinen Erkenntnisgegenstand als ein im Vorhinein<br />
Bestimmtes zu bestimmen sucht und als ein Recht, wie es idealerweise sein sollte, erst<br />
konstruiert.<br />
Gewiss geben Kelsens hier nachvollzogene Überlegungen seine Überzeugung frei, dass,<br />
wer das Recht mit weltanschaulichen Postulaten füllt, es entweder unbeabsichtigt<br />
missverstehe oder absichtlich missdeute. Dasselbe gilt für die Wissenschaft vom Recht, die,<br />
weil mit Psychologie, Soziologie und Ethik vermengt, an einem Methodensynkretismus<br />
krankt, „der das Wesen der Rechtswissenschaft verdunkelt und die Schranken verwischt, die<br />
192<br />
ihr durch die Natur ihres Gegenstandes gezogen sind.“ Kelsens Anliegen liesse sich in dem<br />
Satz zusammenfassen, dass das Recht und die Rechtswissenschaft sein sollten, was sie ihrem<br />
Wesen nach eigentlich sind. Wenn Kelsen zwar nicht scharf genug zwischen<br />
wesensmässigem und faktischem Sein unterscheidet, wird dennoch deutlich, dass es ihm auf<br />
die Darstellung des faktischen Seins nicht ankommt, sondern er vielmehr ein ihm<br />
wesensmässig scheinendes Sein konstruiert. Weil er dieses ideale Sein als das eigentlich reale<br />
ansieht, gelangt er dazu, seine Theorie als objektive Beschreibung auszugeben.<br />
Kelsens Konstruktion des Gegenstandes, und darin liegt das für unseren Zusammenhang<br />
Wesentliche, geschieht als Bewegung gegen das als Kontrapunkt gefasste Naturrecht. Eben<br />
deshalb fügt Kelsen seiner zweiten Auflage einen Anhang hinzu, in dem er ausführt, „was von<br />
188<br />
Ders.: Reine Rechtslehre, S. 1.<br />
189<br />
Dass Kelsen eine solche Doppeldeutigkeit von sich weisen würde, zeigt das Vorwort zur zweiten Auflage der<br />
Reinen Rechtslehre von 1960, wo er „eine objektive, ihren Gegenstand nur beschreibende Rechtswissenschaft“<br />
als sein tragendes Anliegen formuliert; ebd., S. VIII.<br />
190<br />
Vgl. ebd., S. 1.<br />
191<br />
Vgl. ebd. das Vorwort zur 1934 erschienenen Erstauflage, S. IV-VI sowie ebd., S. 1.<br />
192<br />
Ebd., S. 1.<br />
55