Gesetz ohne Gott
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Gegen Hobbes’ Charakterisierung der menschlichen Natur hat nun allerdings Hegel in seinem<br />
Naturrechtsaufsatz Einspruch erhoben. Zunächst kritisiert er an der empiristischen Methode,<br />
zu deren Vertretern Hobbes, Locke, Grotius und Pufendorf gezählt werden, die Abstraktion<br />
des Naturzustands, bei der das, „was als schlechthin notwendig, an sich, absolut einerseits<br />
behauptet ist, zugleich andererseits als etwas nicht Reelles, bloss Eingebildetes und als<br />
Gedankending“ anerkannt wird, was ihm als ein harter Widerspruch erscheint. 355 Die Fiktion<br />
des Naturzustandes wird dadurch hergestellt, dass vom geschichtlichen Leben in<br />
Gemeinschaften alles Willkürliche und Zufällige abgezogen wird, um im Anschluss allein mit<br />
dem hantieren zu können, was am einzelnen Atom als für die menschliche Natur absolut<br />
notwendig in Betracht kommt. 356<br />
An diesem Vorgehen bemängelt Hegel, dass die Abspaltung<br />
des Akzidentellen nicht nach der Richtschnur der Notwendigkeit geschieht:<br />
„Es fehlt nun bei jener Scheidung dem Empirismus fürs erste überhaupt alles Kriterium darüber,<br />
wo die Grenze zwischen dem Zufälligen und Notwendigen gehe, was also im Chaos des<br />
Naturzustandes oder in der Abstraktion des Menschen bleiben und was weggelassen werden<br />
müsse. Die leitende Bestimmung kann hierin nichts anderes sein, als dass soviel darin sei, als<br />
man für die Darstellung dessen, was in der Wirklichkeit gefunden wird, braucht; das richtende<br />
Prinzip für jenes Apriorische ist das Aposteriorische.“ 357<br />
Das aposteriorische Prinzip bringt zwar die Auslöschung einer beträchtlichen Menge von<br />
Besonderheiten, lässt aber zugleich eine unbestimmbare Menge von qualitativen<br />
Bestimmtheiten zurück, die für sich eine bloss empirische und für einander keine innere<br />
Notwendigkeit haben. 358 Die Einführung dieses nicht explizit gemachten Prinzips bezeichnet<br />
Seyla Benhabib in ihrer Auseinandersetzung mit der Hegelschen Kritik als Verdinglichung<br />
bestimmter Elemente auf Kosten anderer, denn „was als Darstellung der ‚natürlichen<br />
Bedingungen des Menschengeschlechts’ ausgegeben worden war, entpuppt sich als ein von<br />
den Bedingungen der Individuen in der zeitgenössischen Gesellschaft abgezogenes Bild.“ 359<br />
Der Individualismus neuzeitlicher Naturrechtstheorien widerspiegelt eine gewandelte Sphäre<br />
des Sittlichen, in der physische Bedürfnisse und Genüsse „in ihren unendlichen<br />
Verwicklungen einer Notwendigkeit gehorchen und [...] das System der sogenannten<br />
politischen Ökonomie bilden.“ 360<br />
Was das menschliche Wesen, wie es im Naturzustand<br />
hervortritt, auszeichnet und was damit das aposteriorische Kriterium der Abstraktion liefert,<br />
355<br />
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle<br />
in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften“, in: ders.: Jenaer<br />
Schriften 1801-1807, Werke in 20 Bd.en, Bd. 2, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ed. Ausg.,<br />
Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 434-530, 444f.<br />
356 Vgl. ebd., S. 445.<br />
357 Ebd.<br />
358 Vgl. ebd., S. 446.<br />
359 Seyla Benhabib: Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie, autorisierte<br />
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 20.<br />
360 Hegel: „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“, S. 482.<br />
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