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Gesetz ohne Gott

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und Grundnorm würde bedeuten, dass letztere ebenso gesetzt wäre wie erstere – mit der<br />

Folge, dass die Normativität an dieser Stelle tatsächlich zu ihrem Abbruch gelangte. Kelsens<br />

Grundnorm hingegen meint nicht die Verfassung selbst, sondern die Vorschrift, dass man sich<br />

gemäss der historisch ersten Verfassung verhalten soll, von der her die aktuelle<br />

Rechtsordnung gilt. Diese Vorschrift ist anders als die erste und jede ihr folgende Verfassung<br />

nicht Setzung, nicht These, sondern vielmehr Voraussetzung, Hypothese, und als solche<br />

Grundlage aller Positivität, <strong>ohne</strong> selbst positiv zu sein.<br />

Wenn Schmitts Kritik auch auf die falsche Scheibe zielt, ist der in den Bogen gespannte<br />

Pfeil doch der treffende, indem er die Überpositivität in Zweifel zieht. Zwar ist die<br />

Grundnorm als Geltungsquelle vorausgesetzt, die drängende Frage allerdings, was dieses<br />

Voraus denn sei, aus dem die Voraussetzung gesetzt wurde, muss, wie Schmitt an anderer<br />

Stelle richtig sieht, von einer reinen Rechtslehre verdrängt werden:<br />

„Der Positivist wird geneigt sein, diese Frage nach dem Anfang der positiven Geltung der Norm<br />

als eine nicht mehr juristische Frage von sich zu weisen. Aber auch er kann der<br />

rechtswissenschaftlichen Notwendigkeit nicht entgehen, bereits den Punkt, an dem er seine<br />

rechtswissenschaftliche Tätigkeit ansetzt, die Rechtsquelle oder die Geltungsgrundlage, in einer<br />

rechtswissenschaftlichen Kategorie zu erfassen. Er wird also jenen tatsächlichen faktischen<br />

Moment, in welchem die positive Geltung einsetzt, entweder normativ oder dezisionistisch<br />

deuten.“ 239<br />

Dass Kelsens Theorie der Grundnorm dem Anspruch nach den normativen Weg wählt, ist<br />

deutlich genug. Den „tatsächlichen faktischen Moment, in welchem die positive Geltung<br />

einsetzt“ – man möchte hinzufügen: als Setzung einsetzt – sucht sie dadurch zu erklären, dass<br />

sie ein immer schon normativ Vorausgesetztes setzt, von dem her die historisch erste<br />

Verfassung gelten kann.<br />

Die Tatsache, dass die Voraussetzung in dezisionistischer Setzung wurzelt, wird von<br />

Kelsen nicht beim Namen genannt. Wenn er allerdings im Anhang der Reinen Rechtslehre<br />

darauf hinweist, dass der dem Rechtspositivismus inhärente Relativismus zu Bewusstsein<br />

bringe, dass „die Entscheidung der Frage, was gerecht und was ungerecht ist, von der Wahl<br />

der Gerechtigkeitsnorm abhängt, die wir zur Grundlage unseres Werturteiles nehmen“, und<br />

„dass diese Wahl nur wir selbst, jeder einzelne von uns, dass sie niemand anderer, nicht <strong>Gott</strong>,<br />

nicht die Natur und auch nicht die Vernunft als objektive Autorität für uns treffen kann“ 240<br />

, so<br />

muss der Aspekt der Entscheidung im Fall der positivistischen Grundnorm umso gewaltsamer<br />

hervortreten, da sie nicht von jedem frei gesetzt, sondern heteronom vorgegeben wird;<br />

vorgegeben von denjenigen, welche die Grundnorm durchsetzen, von der her die herrschende<br />

Rechtsordnung als gültig zu deuten ist.<br />

239<br />

Ders.: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 30.<br />

240<br />

Kelsen: Reine Rechtslehre, S. 442.<br />

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