Gesetz ohne Gott
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derselbe metaphysische Charakter. 409 In solchem Sinne bezeichnet auch Karl Mannheim,<br />
selbst ein Vertreter des Historismus, diesen aus eigener Sicht „als universales, metaphysisches<br />
und methodisches Prinzip in allen Geisteswissenschaften“. 410<br />
Böckenfördes Kritik zielt dahin, dass die historistische Rechtsauffassung eine nicht<br />
geringere Vernachlässigung der Geschichte als das Naturrecht betrieben hatte. Von der<br />
Geschichtlichkeit des Rechts überzeugt, weist er auf dessen Zugehörigkeit zur<br />
gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit hin. Nicht nur das Gewohnheitsrecht, sondern ebenso<br />
das kodifizierte Recht bleibt in die Geschichte des Rechts eingebunden, die einen Teil der<br />
411<br />
geschichtlichen Bewegung der Gesellschaft bildet. Zwar müsse das Recht aufgrund seiner<br />
sozialordnenden Aufgabe immer wieder normativ auf den sich historisch wandelnden Kontext<br />
antworten, doch könnten die Kriterien dieses Antwortens wiederum nur in den<br />
Überzeugungen der jeweiligen historisch konkreten Situation ihren Ursprung haben. Statt von<br />
apriorischen Rechtsideen oder übergeschichtlichen Rechtswerten auszugehen, die auf<br />
bestimmte Situationen anzuwenden wären, setzt Böckenförde auf eine geschichtlich präsente<br />
Ethik, die nicht absolute, nicht bloss seinsollende Ethik ist. Von ihr her müsse sich das Recht,<br />
wolle es als Recht wirksam sein, legitimieren und auf seinen Sinn hin befragen lassen. 412<br />
In der Tat führt die Befreiung von der Teleologie zu einer Historisierung des Historismus.<br />
Der Preis dafür liegt freilich in einem noch deutlicheren Relativismus. Denn nicht nur<br />
Gewohnheitsrecht und kodifiziertes Recht, sondern auch Ethik findet weder Grund noch Ziel<br />
und geht über Gewohnheit nicht hinaus.<br />
Von einer anderen Seite aus hat Karl Popper Kritik am „Historizismus“ und mitunter an<br />
den teleologischen Tendenzen des Historismus geübt. Popper unterscheidet den Begriff des<br />
Historismus zwar deutlich von seinem Begriff des Historizismus, doch werden unter letzteren<br />
auch Strömungen gerechnet, die für die hier besprochenen historistischen Positionen<br />
charakteristisch sind. 413 Als Historizismus bezeichnet er eine Einstellung zu den<br />
Sozialwissenschaften, die deren Hauptziel in historischen Voraussagen sieht und dieses Ziel<br />
dadurch zu erreichen glaubt, dass sie Rhythmen, <strong>Gesetz</strong>e oder Trends entdeckt, die der<br />
geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen. 414<br />
Einem solchen szientistischen, auf<br />
unkritischer Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden beruhenden Verständnis sozialen<br />
Wandels tritt Popper entschieden entgegen: „Die Idee einer Bewegung der Gesellschaft selbst,<br />
409<br />
Vgl. ebd., S. 15f.<br />
410<br />
Mannheim: „Historismus“, S. 5.<br />
411<br />
Vgl. Böckenförde: „Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts“, S. 30-<br />
33.<br />
412<br />
Vgl. ebd., S. 33, 35 und 37.<br />
413<br />
Zur terminologischen Unterscheidung vgl. Karl Popper: Das Elend des Historizismus, hg. von Hubert<br />
Kiesewetter, 7. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 15f.<br />
414<br />
Vgl. ebd., S. 2f.<br />
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