Gesetz ohne Gott
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Während die Reine Rechtslehre aufgrund ihrer eigenen Voraussetzungen die Basis des<br />
Naturrechts erwägt und auf seine verschwiegene Grundnorm weist, so muss für sie selbst in<br />
ganz ähnlicher Weise, weil ebenfalls aufgrund ihrer eigenen Voraussetzungen, eine<br />
gleichermassen notwendige wie notwendig unterschlagene Entscheidung verzeichnet werden.<br />
Eine positive Rechtsordnung definiert Kelsen als eine über <strong>Gesetz</strong>gebung oder Gewohnheit<br />
erzeugte, im grossen und ganzen wirksame Zwangsordnung; auf die Frage nach dem<br />
Geltungsgrund solcher Ordnung beansprucht die Reine Rechtslehre nur eine hypothetische<br />
Antwort zu geben, indem sie sagt: Wenn man das positive Recht als gültig betrachtet, setzt<br />
man eine Grundnorm voraus. 241 Doch da eine Rechtsordnung nur vorliegt, wo Geltung<br />
gegeben ist, Rechtsordnung aber zugleich auch Zwangsordnung bedeutet, muss der Zwang<br />
letztlich in der Durch-Setzung der Grundnorm gründen. Am Ende steht also auch bei Kelsen<br />
der Willkürakt der Entscheidung, am Ende bleibt trotz aller normativen Beteuerungen nicht<br />
„Soll-Norm“, sondern „Seins-Tatsache“. 242<br />
Hinter der Norm, die über der Autorität stehen<br />
sollte, muss sich wiederum eine Autorität bergen, die diese Norm voraussetzt – aber damit<br />
doch eben nur setzt.<br />
Diese Autorität zu umgehen, bemüht sich Kelsen dadurch, dass er sämtliche subjektivpersonalistischen<br />
Elemente tilgt bzw. hinter der objektiv gültigen Grundnorm verbirgt. Die<br />
Grundnorm liesse sich – und Kelsen würde es bestreiten – beschreiben als Willensschluss<br />
unter Ausschluss des Willensaktes, als Sollen unter Verdeckung des Wollenden, als Befehl<br />
eines verschwiegenen Befehlsgebers, kurzum: als Dezisionismus bei Leugnung der<br />
Entscheidung: „Es ist somit nicht die Seins-Tatsache eines auf das bestimmte Verhalten<br />
anderer gerichteten Willensaktes, sondern wiederum nur eine Soll-Norm, aus der – in einem<br />
objektiven Sinne – die Geltung der Norm folgt, dass sich diese anderen dem subjektiven<br />
243<br />
Sinne des Willensaktes entsprechend verhalten sollen.“ Indem Kelsen die Grundnorm mit<br />
den Attributen „hypothetisch“ und „vorausgesetzt“ versieht, wird der Einbruch jeder<br />
seinsmässigen Faktizität, jeder autoritär entscheidenden Setzung in den Bereich jenseits des<br />
rein normativ und dadurch objektiv gedachten Juristischen versetzt.<br />
Wie Recht gelten kann, war die Ausgangsfrage Kelsens; zur Antwort den Weg über das<br />
Naturrecht zu nehmen, schloss er aus. Eine Beschreibung für den stattdessen gewählten Pfad<br />
hat die Rechtstheoretikerin Marie Theres Fögen geliefert: „Er wandelt [...] nach<br />
Zurückweisung aller naturrechtlichen Rechtstheorien und auch aller ihrer Schrumpfformen,<br />
wie Zweck-, Interessen-, Anerkennungs- und Willenstheorie, auf dem halsbrecherisch<br />
241 Vgl. ebd., S. 443.<br />
242 Vgl. die Unterscheidung von „Soll-Norm“ und „Seins-Tatsache“ ebd., S. 8.<br />
243 Ebd.<br />
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