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Gesetz ohne Gott

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„Der ‚Naturzustand des Menschen’, auf den man in der neueren europäischen<br />

Rechtsphilosophie als auf den Grund jeder Rechtsordnung glaubte zurückgehen zu sollen,<br />

schien durch die biologische Individualität des durch die Grenzen seines Leibes definierbaren<br />

Einzelwesens bestimmt. Dieses Konzept des ‚Naturzustands’, das von der Gesellschaftlichkeit<br />

des einzelnen absieht, ist jedoch nur ein Korrelat des Selbstverständnisses des bürgerlichen<br />

Individuums, das sich im Warentausch als diese singuläre ‚Person’ verhält. [...] Die Kataloge<br />

der Menschrechte, auf die sich noch heute die überwiegende Zahl westlicher Rechtstheoretiker<br />

bezieht, sind Ausdruck einer Anthropologie, die die gesellschaftlichen Interessen bürgerlicher<br />

Individuen zu metaphysischen Eigenschaften der in jedem Individuum sich manifestierenden<br />

menschlichen Natur stilisiert.“ 366<br />

Diese marxistische Kritik am Naturzustandstheorem und an der damit verbundenen<br />

Menschenrechtsidee findet sich bereits in Marx’ eigener Auseinandersetzung mit der<br />

französischen Bürgerrechtstradition des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Nach einer Prüfung<br />

der Postulate von Gleichheit, Freiheit, Sicherheit und Eigentum zieht Marx in seiner<br />

Abhandlung „Zur Judenfrage“ folgendes Fazit:<br />

„Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus,<br />

über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein<br />

Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes<br />

Individuum ist. Weit entfernt, dass der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefasst wurde,<br />

erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen<br />

äusserlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit.“ 367<br />

Die Einwände gegenüber bürgerlichen Konzepten von Naturzustand und Menschenrechten,<br />

wie sie von Hegel, Marx, Borkenau, Holz u.a. seit zweihundert Jahren formuliert werden,<br />

lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass eine normativ gehaltvolle Bestimmung der<br />

menschlichen Natur, die erst zu gewinnen wäre, zum Ausgangspunkt genommen wird. 368<br />

Das<br />

Ziel der Untersuchung wird vorausgesetzt, <strong>ohne</strong> dass die normativen Kriterien offen liegen,<br />

anhand derer das anthropologisch Wesentliche extrahiert wird. Der Argumentation eignet<br />

deshalb dogmatischer Charakter und die Frage drängt sich auf, ob Erkenntnis hinter Interesse<br />

zurückbleibt, wie es Borkenaus sozialhistorischer Kontextualisierungsversuch nahe legen<br />

mag. Neben dem Einwand umfasst die Kritik zumeist einen Vorschlag. Er steht bei Borkenau<br />

am Beginn seiner Abhandlung und findet sich ebenso am Beginn der Kritiklinie bei Hegel.<br />

Der Mensch könne nicht atomistisch gedacht, sondern müsse wesentlich gesellschaftlich<br />

gefasst werden: „Das Positive ist der Natur nach eher als das Negative, oder, wie Aristoteles<br />

es sagt, das Volk ist eher der Natur nach als der Einzelne; denn wenn der Einzelne<br />

abgesondert nichts Selbständiges ist, so muss er gleich allen Teilen in einer Einheit mit dem<br />

366<br />

Hans Heinz Holz: „Die regulative Idee des Menschenrechts“, in: Topos. Internationale Beiträge zur<br />

dialektischen Theorie, H. 21 (2003), S. 11-23, 18f.<br />

367<br />

Karl Marx: „Zur Judenfrage“, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung, Bd.<br />

2, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und vom Institut für Marxismus-Leninismus<br />

beim ZK der SED, Berlin: Dietz Verlag 1982, S. 141-169, 158f.<br />

368<br />

Vgl. dazu Benhabib: Kritik, Norm und Utopie, S. 19f.<br />

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