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Gesetz ohne Gott

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wiederkehrenden Stellen, an denen Kelsen gegenwärtig hält, dass aus einem Sein kein Sollen<br />

erwachsen könne, sind wie eine Kette von Marksteinen in den Text eingelassen. 185<br />

Seine<br />

eigene Überzeugung entwickelt er dabei in der Abgrenzung von dem, was jenseits der<br />

Markierung liegt. Denn nur in der Unterscheidung seien die beiden Geschiedenen je für sich<br />

zu begreifen. Das Verstehen nimmt seinen Weg deshalb über das metatheoretische In-<br />

Beziehung-Setzen zweier Seiten, die einander in der theoretischen Praxis unvermittelt<br />

gegenüberstehen. Am deutlichsten klingt dies im Aufsatz Die Idee des Naturrechts an, in dem<br />

Kelsen positives und natürliches Normsystem auf ihre Geltungsprinzipien hin befragt:<br />

„Es ist der Gegensatz zwischen Naturrecht und positivem Recht, aus dem heraus allein das<br />

Wesen des einen wie des anderen verstanden werden kann. Auch das positive Recht ist eine<br />

Ordnung menschlichen Verhaltens; aber diese unterscheidet sich von der ‚natürlichen’ dadurch,<br />

dass sie nur eine ‚künstliche’, d.h. vom Menschen geschaffene ist und als solche, als blosses<br />

Menschenwerk auftritt.“ 186<br />

Dass das positive Recht als „blosses Menschenwerk“ daherkommt, bedeutet für Kelsen nichts<br />

anderes, als dass es seine normative Quelle, d.h. seinen spezifischen Geltungsgrund, allein im<br />

menschlichen Willen bzw. in dem von ihm ausgehenden Setzungsakt hat, während das<br />

natürliche Recht seine Fundierung in der Natur als einem dem Menschen Unverfügbaren<br />

findet. Im Fall des positiven Rechts ist es eine bestimmte Weise der Normerzeugung, die<br />

Geltung garantiert; die Normen des Naturrechts hingegen gelten kraft ihres inneren Gehalts,<br />

weil sie gut, richtig oder gerecht sind. Was positives und natürliches Recht auf die zwei Seiten<br />

einer Grenze versetzt, ist nach Kelsen der Gegensatz eines formalen und eines materialen<br />

Geltungsprinzips. 187<br />

Diese Grenze wird nun nicht als immer schon bestehende bloss ex post erkannt, wenn man<br />

ihr entlang eine Antwort auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Rechtspositivismus<br />

und Naturrecht sucht, sondern muss wesentlich auch als eine verstanden werden, die der<br />

Rechtspositivismus mit hervorbringt. Kelsens Lehre des positiven Rechts zielt darauf, das<br />

Recht in seine Schranken zu weisen und die Rechtswissenschaft von dem zu befreien, was<br />

seiner Überzeugung nach ins Jenseits der Grenze gehört. Der Gedanke der Reinheit hat dabei<br />

durchwegs programmatischen Charakter und der Reinen Rechtslehre ist nicht nur an<br />

Grenzerkenntnis gelegen, sondern mehr noch an Grenzziehung:<br />

„Wenn sie sich als eine ‚reine’ Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das<br />

Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden<br />

185 Die Geschiedenheit von Sein und Sollen wird ganz zu Beginn der Reinen Rechtslehre (S. 5) als tragendes<br />

Moment eingeführt und im Anschluss gerade auch dort hervorgehoben, wo die Naturrechtslehre thematisiert<br />

wird (vgl. ebd., S. 196f., 227 sowie, im Anhang zum Problem der Gerechtigkeit, S. 405, 414 und 430).<br />

186 Ders.: „Die Idee des Naturrechts“, in: ders.: Staat und Naturrecht. Aufsätze zur Ideologiekritik, mit einer<br />

Einleitung hg. von Ernst Topitsch, München: Wilhelm Fink 1989, S. 73-113, 77.<br />

187 Vgl. ebd., S. 77f.<br />

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