Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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12 FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />
fällig einzelne Personen, sondern ist das Problem<br />
einer bestimmten sozialen Kategorie<br />
(etwa Bauern, Arbeiter, Frauen). (2) Die dieser<br />
Kategorie zugehörigen Personen sind alltagsweltlich<br />
miteinander vernetzt. Im Anschluß<br />
an Harrison White faßt Tilly (1978: 63) beide<br />
Bedingungen in dem Kürzel catnet (categorie<br />
und network) zusammen. Wo ein catnet besteht,<br />
können bestimmte Probleme am ehesten<br />
als gemeinsame Probleme erfahren und gedeutet<br />
werden - eine entscheidende, aber nicht<br />
hinreichende Bedingung für kollektive Mobilisierung.<br />
Eine zweite Voraussetzung bilden Faktoren,<br />
die kollektivem Protest vorgelagert sind. Protest<br />
steht nur selten am Anfang der Gruppenbildung.<br />
Die Bereitschaft zur Protestteilnahme<br />
wird - ceteris paribus - umso wahrscheinlicher,<br />
je besser sich die Mitglieder der Gruppe<br />
kennen und je mehr sie einander vertrauen.<br />
Protest ist vielleicht wichtigster Orientierungspunkt,<br />
aber sicherlich nicht quantitativ dominierender<br />
Teil von Bewegungsaktivitäten. Bestimmend<br />
in dieser Hinsicht ist der Austausch<br />
von Informationen, die Mobilisierung von Ressourcen,<br />
die Bearbeitung interner Probleme der<br />
Selbstdefmition, Arbeitsteilung und Führerschaft,<br />
die scheinbar zwecklose Geselligkeit<br />
des Palavers. Mag man sich individuell und<br />
ohne direkte Kontakte zu <strong>Bewegungen</strong> dazu<br />
durchringen, einen Appell zu unterschreiben<br />
oder an einer Demonstration teilzunehmen, so<br />
gilt dies kaum für aufwendige oder gar riskante<br />
Protesfhandlungen. Diese Einsicht ist vor<br />
allem bei wohlverstandenen Aktionen zivilen<br />
Ungehorsams praktisch geworden, denen Gemeinschaftsbildung<br />
vorausgeht. Demnach sind<br />
nur diejenigen zur Teilnahme „legitimiert", die<br />
einer Bezugsgruppe (affinity group) angehören<br />
und sich gemeinsam sowohl mental als<br />
auch in handlungspraktischem Training auf zivilen<br />
Ungehorsam vorbereitet haben. Für alle<br />
Aktionen gilt eine Konsensbedingung mit strik<br />
tem Vetorecht jedes einzelnen. Umgekehrt bildet<br />
aber auch die Erfahrung kollektiven und<br />
zumal riskanten Protests einen Faktor, der Vergemeinschaftung<br />
fördert. Sie schafft zusätzliches<br />
Vertrauen, stabilisiert die Gruppe und<br />
macht eindeutige und verbindliche kollektive<br />
Identität wahrscheinlicher.<br />
Eine dritte Voraussetzung für die Identitätsbildung<br />
einer sozialen Bewegung ist eine gewisse<br />
Dauerhaftigkeit des Engagements. Dieses<br />
wird dann wahrscheinlich, wenn Protestgruppen<br />
strukturell abgeblockt werden, wenn die<br />
Routineverfahren politischer Einflußnahme<br />
(z.B. über Wahlen oder Lobbying) versagen<br />
oder auf prinzipielle Vorbehalte stoßen, wenn<br />
von den Verursachern bzw. Verantwortlichen<br />
keine Lösung erwartet werden kann, sofern<br />
sie nicht massiv unter Druck gesetzt werden.<br />
Je mehr nun Proteste zeitlich über spontane<br />
Unmutsäußerungen hinausgehen, sachlich auf<br />
Strukturprobleme anstatt punktueller Mißstände<br />
und Versäumnisse zielen und sozial von<br />
größeren Kollektiven getragen werden, um so<br />
eher werden die Handelnden auch mit Fragen<br />
von Organisations- und Strategiefähigkeit konfrontiert.<br />
<strong>Bewegungen</strong> lassen sich nicht allein<br />
auf die Unmittelbarkeit von face-to-face-Kontakten<br />
gründen, sondern bestehen als zumeist<br />
lose, teilweise auch durch formale Organisation<br />
gestützte Netzwerke von oft großer räumlicher<br />
Ausdehnung. Hierbei kann nicht mehr<br />
jeder jeden kennen. Ebensowenig wird ein voller<br />
ideologischer und affektiver Gleichklang<br />
aller Beteiligten bestehen. Vielmehr sind divergierende<br />
Gruppen, Strömungen und Teilziele<br />
eingeschlossen, die nicht in einer einzigen<br />
Organisation aufgehoben werden. Das<br />
macht die Bildung kollektiver Identität auf Bewegungsebene<br />
besonders wichtig, aber auch<br />
besonders problematisch Wie ist kollektive<br />
Identität auf dieser Ebene überhaupt vorstell-