Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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mm FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />
Die Auflösung traditioneller Bindungen an<br />
Familie und sozial-moralische Milieus hat in<br />
der modernen Gesellschaft dazu geführt, daß<br />
die individuelle Verortung im sozialen Raum<br />
unter den Bedingungen von zunehmenden<br />
Wahlfreiheiten und kulturellem Pluralismus<br />
erfolgt. Das wirft aber zugleich die Frage auf,<br />
wie Menschen damit umgehen, wenn Sicherheit<br />
und Orientierung, wie sie durch kollektive<br />
Gruppenzugehörigkeiten bisher vorgegeben<br />
waren, zunehmend verloren gehen und Vereinzelung<br />
sich durchsetzt, eine Frage, wie sie vor<br />
allem Gegenstand der 'Individualisierungsthese'<br />
von Ulrich Beck ist (Beck 1983). Denn die<br />
Erfahrungen, mit denen wir in den letzten<br />
Jahren vermehrt konfrontiert werden, lassen<br />
Skepsis gegenüber allzu harmonistischen<br />
Deutungen der gesellschaftlichen Modernisierung<br />
aufkommen. So erlangen derzeit nicht nur<br />
in Deutschland nationalistische und offen<br />
rassistische Überzeugungen immer größer<br />
werdende - auch massenpublizistische - Beachtung.<br />
Letztlich geht es um den Versuch, den<br />
Verlust traditionaler Vergemeinschaftungsformen<br />
durch Alternativen zu kompensieren und<br />
dadurch neue Sicherheiten zu schaffen — selbst<br />
auf Kosten anderer.<br />
Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt das<br />
Thema Kollektive Identität besondere Bedeutung:<br />
Dem Verlust angestammter Orientierungsmuster<br />
wird durch neue Identifikationsangebote<br />
zu begegnen gesucht. Dabei spielt<br />
kollektive Identität in sozialen <strong>Bewegungen</strong><br />
eine prominente Rolle, gewissermaßen als<br />
„soziales Bindemittel", das für rechtsextremistische<br />
Gruppierungen nicht weniger bedeutsam<br />
ist als für die 'Neuen <strong>Soziale</strong>n <strong>Bewegungen</strong><br />
'. Während letztere jedoch Identitätsbindung<br />
auf der Basis einer postmaterialistischen<br />
Werteausrichtung zu begründen suchen,<br />
bemühen sich erstere, Gemeinschaft<br />
durch rassistische und nationalistische Ausgrenzungsbestrebungen<br />
herzustellen.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Bewegungen</strong> sind offensichtlich nicht<br />
nur als zielbewußte und rationale kollektive<br />
Akteure zu verstehen, die sich in den politischen<br />
Prozeß mit ihren Anliegen einbringen:<br />
Ihre Analyse bedarf gleichermaßen der Differenzierung<br />
in 'Strategy and Identity' (Cohen<br />
1985, Goldstein/Rayner 1994). So scheinen<br />
Gemeinschaftsbezüge mit bestimmten Wertpräferenzen<br />
sozialen <strong>Bewegungen</strong> als Ressource<br />
zu dienen. In den 70er/80er Jahren zeichneten<br />
sich die 'Neuen <strong>Soziale</strong>n <strong>Bewegungen</strong>' durch<br />
einen postmaterialistischen Wertehorizont aus.<br />
Dabei war die Bildung gemeinsamer Milieus<br />
und Lebenswelten entscheidende Voraussetzung<br />
für das Entstehen dieser Bewegungsakteure<br />
im Sinne von Solidargemeinschaften.<br />
Ahnliche Mechanismen bei gleichwohl unterschiedlichen<br />
Themenschwerpunkten lassen<br />
sich nunmehr auch für die Mobilisierung und<br />
Gewaltausübung rechtsextrem orientierter<br />
Jugendlicher beobachten, die gleichfalls über<br />
spezifische Milieubindungen und eigene Wertorientierungen<br />
verfügen (Heitmeyer 1987,<br />
Bergmann/Erb 1994a, 1994b).<br />
Nun haben Bewegungsforscher schon länger<br />
hervorgehoben, daß die Erzeugung und Stabilisierung<br />
kollektiver Identitäten konstitutives<br />
Merkmal sozialer <strong>Bewegungen</strong> sind. Gerade<br />
Alain Touraine und seinen Schülern kommt<br />
hierbei eine herausragende Stellung zu, da<br />
sie den Identitätsbegriff ins Zentrum ihrer<br />
Aufmerksamkeit gerückt haben (Touraine<br />
1976, Melucci 1988, Diani 1992; Rucht in<br />
diesem Heft). Spezielle Studien bemühen sich<br />
darum, dies exemplarisch an konkreten <strong>Bewegungen</strong><br />
wie der Frauenbewegung aufzuzeigen<br />
(Rucht 1988, Taylor/Whittier 1992). Dabei ist<br />
generell festzuhalten, daß es für soziale <strong>Bewegungen</strong><br />
konstitutiv ist, für sich selbst in der<br />
Lage zu sein, zwischen dem, was zu ihnen<br />
gehört und somit ihre Einheit ausmacht, und<br />
dem, was nicht zu ihnen gehört, unterscheiden<br />
zu können, ob sie dies nun latent tun oder