25.10.2013 Aufrufe

Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

18 FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />

dest bei jenen zu finden, die nicht schon von<br />

vornherein der Gegenseite zuzurechnen sind.<br />

Gelingt es, große Teile des Publikums für die<br />

Sache der Bewegung einzunehmen, so geraten<br />

auch noch so mächtige Gegenspieler der Bewegung<br />

in die Defensive. Unter diesem Blickwinkel<br />

bemißt sich die „Realitätstüchtigkeit"<br />

einer sozialen Bewegung daran, ob sie die Bedeutung<br />

des Publikums erkennt, dessen Aufmerksamkeit<br />

erringt und zumindest bei Teilen<br />

des Publikums Zustimmung gewinnt. Wo die<br />

Botschaften der sozialen Bewegung dem gesamten<br />

Publikum unverständlich oder skurril<br />

erscheinen, wo die Bewegung rundum auf<br />

Gleichgültigkeit oder Ablehnung stößt, kann<br />

kaum ein realistisches Selbstkonzept der Bewegung<br />

unterstellt werden. Sollten selbst negative<br />

Erfahrung mit Publikumsreaktionen verdrängt<br />

oder völlig unangemessen verarbeitet<br />

werden - etwa durch Schuld- und Ignoranzvorwürfe<br />

an die Außenwelt -, so verstärkt sich<br />

der Eindruck, kollektive Identität sei in dem<br />

Sinne gestört, daß sie als bloße Identitätsbehauptung<br />

eigensinnig fortwuchert, anstatt<br />

Fremdbilder zur Kenntnis zu nehmen und<br />

selbstkritisch zu verarbeiten. Wie für Ich-Identität<br />

bildet auch für kollektive Identität das<br />

von außen zurückgespiegelte Bild einen Prüfstein,<br />

an dem sich das Selbsfkonzept zu bewähren<br />

hat. Dies bedeutet nicht eine opportunistische<br />

Anpassung an die jeweiligen externen<br />

Erwartungen, sondern deren Wahrnehmung<br />

als einer Orientierungsmarke, die es ernstzunehmen<br />

gilt. Geschieht dies nicht, so wird das<br />

Selbstkonzept autistisch. Die Bewegung isoliert<br />

sich von ihrer Umwelt.<br />

Ohne die Analogie zu individualpsychologischen<br />

Konzepten strapazieren zu wollen, erscheint<br />

es doch sinnvoll, auch für Kollektive<br />

in Gestalt sozialer <strong>Bewegungen</strong> die Frage nach<br />

pathologischen Entwicklungen zu stellen und<br />

gerade über diesen Umweg die Bedingungen<br />

kollektiver Identität zu erhellen. Im wesentli­<br />

chen lassen sich zwei Fehlentwicklungen unterscheiden:<br />

(1) die Übersteigerung kollektiver<br />

Identität mit dem Effekt einer auf Dauer<br />

kontraproduktiven sozialen Schließung und (2)<br />

die Erosion kollektiver Identität mit dem Effekt<br />

einer zu großen sozialen Öffnung bei<br />

gleichzeitiger mangelnder Konturierung und<br />

interner Kohäsion auf Bewegungsebene.<br />

Wird die kollektive Identität einer sozialen Bewegung<br />

übersteigert, so wächst der Stellenwert<br />

der Gemeinschaft, die sich schließlich<br />

zum Selbstzweck erheben kann. Die Bewegung<br />

entwickelt sich zu einem verschworenen<br />

Kreis von true believers (Hoffer 1951), denen<br />

immer größere Investitionen für die Gemeinschaft<br />

abverlangt werden. Die typischerweise<br />

eher diffuse und relativ leicht passierbare Grenze<br />

zwischen innen und außen wird abgeschottet.<br />

Die Kosten für exit und voice werden erhöht,<br />

Grenzgänge verunmöglicht, interne Abweichung<br />

und Kritik als Häresie gebrandmarkt.<br />

Dafür werden besondere Verfahren und Instanzen<br />

zur Sanktionierung ausgebildet. Gemeinschaft<br />

wird sakrosankt, Loyalität notorisch abverlangt,<br />

anstatt intrinsisch aufgeboten. Die damit<br />

entstehenden individuellen Kosten sind für<br />

viele Bewegungsanhänger nicht akzeptabel.<br />

Unter diesen Bedingungen entscheiden sie sich<br />

trotz hoher e»'f-Schwellen dafür, der Bewegung<br />

den Rücken zu kehren. Auf längere Sicht<br />

verwandelt sich die Bewegung in eine Sekte.<br />

Für die verbliebenen Parteigänger mag sie Belohnungen<br />

abwerfen (etwa die Uminterpretation<br />

der eigenen Isolierung von der Umwelt als<br />

Zustand der Auserwähltheit), aber nach außen<br />

bleibt sie wirkungslos. Die kollektive Identität<br />

der Gemeinschaft ist zwar intensiviert worden,<br />

aber der für <strong>Bewegungen</strong> konstitutive Anspruch<br />

auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen<br />

ist zum Scheitern verurteilt.<br />

Wird dagegen die kollektive Identität einer<br />

Bewegung - aus welchen Gründen auch im-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!