Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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immer populärer gewordenen Protestereignisanalysen,<br />
die zu oft überraschenden Befunden<br />
geführt haben, sowohl im internationalen als<br />
auch im Zeitvergleich. So hat sich herausgestellt,<br />
daß im Vergleich zu anderen Ländern<br />
die deutschen neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> gar<br />
nicht so radikale Aktionsformen benutzen, wie<br />
man aufgrund der Literatur vermuten würde.<br />
Auch das herkömmliche und immer wieder<br />
reproduzierte Bild der sechziger Jahre als einer<br />
Periode außergewöhnlich starker Mobilisierung<br />
wird von diesen Fakten nicht bestätigt:<br />
Verglichen mit den achtziger Jahren waren<br />
sowohl die Zahl der Aktionen als auch die<br />
Teilnehmerzahlen eher bescheiden.<br />
Natürlich sollte man auch bei der Interpretation<br />
derartiger quantitativer Daten vorsichtig<br />
sein. So hängt die Bedeutung der Proteste der<br />
sechziger Jahre natürlich nicht nur von ihrem<br />
Umfang ab. In dem Sinne sind Studien, die<br />
nur auf quantitative Daten aufbauen, genauso<br />
wenig verläßlich wie Studien, die am umgekehrten<br />
Übel leiden. Wäre ich um eine Bilanz<br />
der amerikanischen Bewegungsforschung gebeten<br />
worden, hätte ich ihr wahrscheinlich genau<br />
den entgegengesetzten Vorwurf gemacht.<br />
Eine stärkere Einbeziehung quantitativer Daten<br />
und Analysemethoden hat nicht nur den<br />
Vorteil, daß sie eine realistischere Beschreibung<br />
des Untersuchungsgegenstandes ermöglicht;<br />
sie erleichtert auch eine Integration von<br />
Theorie und Empirie. Gerade quantitative Daten<br />
sind besonders geeignet, Theorien systematisch<br />
zu testen und die relative Erklärungskraft<br />
unterschiedlicher Variablen festzustellen.<br />
Dabei braucht es nicht immer um „harte" Zahlen<br />
zu gehen, auch auf systematisch gesammeltes<br />
qualitatives Material kann man, mit ein<br />
bißchen Kreativität, quantitative Methoden anwenden:<br />
die Protestereignisdaten, die im Grunde<br />
genommen aus qualitativem schriftlichem<br />
Zeitungsmaterial hervorgehen, bieten dafür ein<br />
FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />
gutes Beispiel. Und auch die benützten Analysemethoden<br />
müssen nicht unbedingt sehr „sophisticated"<br />
sein. Im Gegenteil, gerade bei einem<br />
so flüssigen, schwer greifbaren und multidimensionalen<br />
Phänomen wie dem der sozialen<br />
<strong>Bewegungen</strong> läuft man Gefahr, mit allzu<br />
verfeinerten Techniken, die meist strenge<br />
Anforderungen an die Datenqualität stellen,<br />
die Daten zu sehr zu strapazieren. Nein, ganz<br />
einfache Tabellen und Figuren, und vielleicht<br />
ein Korrelationskoeffizient oder eine Regressionsanalyse,<br />
bedeuteten schon einen großen<br />
Schritt nach vorne. Leider ist es noch nicht so<br />
weit: „Tabelle" heißt in einer deutschen Bewegungsstudie<br />
gewöhnlich „Typologie", und<br />
Abbildungen werden in der Regel nur benutzt,<br />
um das „Modell" des Autors darzustellen. Nach<br />
einer empirischen Überprüfung der Typologie<br />
oder des Modells sucht man dagegen vergeblich.<br />
Die Stärke der Beweiskraft begründet sich<br />
oft über das Argumentationsvermögen des Autors,<br />
das allerdings bei den deutschen Bewegungsforschern<br />
gut entwickelt ist.<br />
Während es bei den ersten drei Problemen, die<br />
ich angeschnitten habe, um die Art und Weise<br />
ging, mit der die deutsche Bewegungsforschung<br />
an ihren Forschungsgegenstand herangeht,<br />
handelt es sich bei dem letzten Punkt um<br />
den Gegenstand selber. Die Interessen der deutschen<br />
Bewegungsforschung richten sich fast<br />
ausschließlich auf die neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong>.<br />
Dafür gibt es, denke ich, verschiedene<br />
Gründe. Erstens sind <strong>Bewegungen</strong> wie die<br />
Friedens- Ökologie- und Frauenbewegung seit<br />
den sechziger Jahren zur dominierenden Form<br />
sozialen Protests in der Bundesrepublik herangewachsen.<br />
Wie aus Protestereignisdaten hervorgeht,<br />
waren sie in der Periode 1975-1989<br />
für ungefähr drei Viertel aller Protestaktionen<br />
in Westdeutschland verantwortlich. Ein weiterer<br />
Grund für die große Beachtung der neuen<br />
sozialen <strong>Bewegungen</strong> gerade in den deutschen<br />
Sozialwissenschaften liegt darin, daß die Be-