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Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995 71<br />

Codierung repräsentiert die Identität eines<br />

Funktionssystems, also das, was es von seiner<br />

Umwelt unterscheidet, während Programmierung<br />

die Art und Weise bezeichnet, wie das<br />

System intern strukturiert ist und mit codespezifischen<br />

Informationen weiter verfährt Außerdem<br />

läßt sich die Programmierung eines<br />

Funktionssystems austauschen, ohne daß dadurch<br />

die Identität des Systems in Frage gestellt<br />

wird, sofern nur die Codierung intakt<br />

bleibt; dabei funktioniert ein Funktionssystem<br />

nur, wenn sowohl Codierung als auch Programmierung<br />

vorliegen (Luhmann 1983,<br />

1986a).<br />

Auf den Fall des Wissenschaftssystems angewandt,<br />

stellt die Codierung wahr/falsch die<br />

Identität des Wissenschaftssystems dar, etwa<br />

gegenüber anderen Funktionssystemen in dessen<br />

Umwelt wie Recht, Politik oder Wirtschaft,<br />

während Theorien die jeweils interne Programmierung<br />

ausmachen (Luhmann 1990a). Was<br />

hier interessiert, ist der Austausch der jeweiligen<br />

Programmierung gegen eine andere. Kuhn<br />

hat diesen Fall als Paradigmawechsel beschrieben<br />

(Kuhn 1976). Ausgangspunkt ist normale<br />

Wissenschaft, die mit einem bestimmten Paradigma<br />

arbeitet. Stellen sich für dieses Paradigma<br />

verstärkt Anomalien ein, also Ereignisse,<br />

die sich mit dem gegebenen Paradigma nicht<br />

mehr erklären lassen oder ihm sogar widersprechen,<br />

so wird zuerst versucht, über die<br />

Einführung von ad-hoc-Hypofhesen die Geltung<br />

des Paradigmas trotzdem in Kraft zu halten.<br />

Gelingt dies aber immer weniger, gerät<br />

Wissenschaft in eine Krise, weil deutlich wird,<br />

daß auf das in Anwendung begriffene Paradigma<br />

kein Verlaß mehr ist. Zwar sind die Widerstände<br />

beträchtlich, doch irgendwann weitet<br />

sich das Bewußtsein, daß das Paradigma in<br />

einer ernsthaften (Erklärungs-)Krise steckt, soweit<br />

aus, daß versucht wird, ein neues Paradigma<br />

zu finden, das besser in der Lage ist, zu<br />

erklären, was dem alten Paradigma solche<br />

Schwierigkeiten bereitet. Gerät Wissenschaft<br />

aber in eine solche Krise, wird der vorliegende<br />

Wissensstand unter dem Gesichtspunkt seines<br />

Wahrheitsgehalts einer kompletten Überprüfung<br />

unterzogen Wissenschaft sieht sich<br />

also gezwungen, nochmals zu prüfen, was und<br />

was weshalb aufgrund der Anwendung des bestehenden<br />

Paradigmas für wahr und für unwahr<br />

gehalten wird und wie sich dieser Befund<br />

für ein neues Paradigma ausnehmen würde.<br />

In diesem Moment thematisiert Wissenschaft<br />

das Verhältnis von wahrem und unwahrem<br />

Wissen und damit die Unterscheidung von<br />

Wahrheit und Unwahrheit auf eine grundlegend<br />

neue Weise, was bedeutet, daß Wissenschaft<br />

sich damit auseinandersetzt, was sie im<br />

Unterschied zu anderem auszeichnet, und das<br />

heißt: Wissenschaft setzt sich mit seiner Identität<br />

auseinander. 3<br />

Woran Wissenschaft festhält,<br />

ist somit die Codierung, d.h. die Unterscheidung<br />

von Wahrheit und Unwahrheit; was<br />

dagegen zur Disposition steht, ist das Programm,<br />

also die Art und Weise, wie entschieden<br />

wird, was wahr und unwahr ist.<br />

Das, was für Funktionssysteme gilt, gilt im<br />

Prinzip für alle sozialen Systeme, wenngleich<br />

die Unterscheidung von Codierung und Programmierung<br />

nur auf Funktionssysteme Anwendung<br />

findet. Das heißt: Jedes Systems weist<br />

eine Art von Organisation im Sinne Maturanas<br />

auf, die die Identität des Systems bestimmt,<br />

und eine Form basaler Struktur, die bestimmt,<br />

wie systemspezifische Operationen systemintem<br />

ablaufen. Diese basale Struktur steuert<br />

normalerweise die Autopoiesis des Systems<br />

und ist austauschbar gegen andere, ohne daß<br />

allein dadurch schon die Autopoiesis des Systems<br />

beeinträchtigt wird. Nur wird in diesem<br />

Moment, da ein Strukturwandel erforderlich<br />

wird, die Autopoiesis des Systems von der<br />

basalen Ebene auf eine reflexive übersetzt und<br />

dort solange fortgeführt, bis eine neue Struktur<br />

gefunden ist.

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