Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Kai-Uwe Hellmann<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Bewegungen</strong><br />
und Kollektive Identität<br />
Latenz, Krise und Reflexion sozialer Milieus<br />
Der Begriff der kollektiven Identität spielt für<br />
die Beschreibung und Bestimmung sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />
eine nicht zu unterschätzende Rolle.<br />
Bei Karl Marx klingt das 'an und für sich'<br />
schon an; in neueren Arbeiten hat der Begriff<br />
der 'collective identity' für die Begriffsbestimmung<br />
und das Verständnis sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />
eine prominente Stellung gewonnen (vgl.<br />
nur Morris/Mueller 1992). Mit Veit Michael<br />
Bader muß jedoch konstatiert werden, daß „sich<br />
die immer wieder betonte große Bedeutung<br />
kollektiver Identität für die Herausbildung kollektiven<br />
Handelns und sozialer <strong>Bewegungen</strong><br />
umgekehrt proportional verhält zur Klärung<br />
der Grundbegriffe und des analytischen Bezugsrahmens."<br />
(Bader 1991: 104) Mit anderen<br />
Worten: Methodisch wie theoretisch vermag<br />
der Gebrauch des Begriffs der kollektiven Identität<br />
innerhalb der Bewegungsforschung bisher<br />
noch wenig zu überzeugen. Von daher ist<br />
eine deutliche Diskrepanz zwischen der Häufigkeit<br />
des Gebrauchs und der Kenntnis des<br />
Begriffs festzustellen, die ein Forschungsdefizit<br />
und dringendes Desiderat der Soziologie<br />
sozialer <strong>Bewegungen</strong> offenlegt. Die Frage ist,<br />
wie diesem Defizit abgeholfen werden kann.<br />
Es liegt nahe, auf allgemeine Soziologie zurückzugehen,<br />
da sich Bewegungsforschung<br />
zumeist dort auch bedient hat, wenn es um die<br />
FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />
Anwendung des Identitätsbegriffs auf soziale<br />
<strong>Bewegungen</strong> ging.<br />
Jenseits von Bewegungsforschung spielt der<br />
Begriff der Identität eine nicht unbedeutende<br />
Rolle. Es sei nur an George Herbert Meads<br />
Unterscheidung von T und 'me' erinnert, an<br />
Erving Goffmans Unterscheidung von personaler<br />
und sozialer Identität oder an die Fragestellung<br />
von Jürgen Habermas, ob komplexe<br />
Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden<br />
können. Nicht zuletzt sei auf die 'social<br />
identity theory' von Henri Tajfel verwiesen,<br />
selbst mit Anwendung auf soziale <strong>Bewegungen</strong><br />
(vgl. Tajfel 1982: 244ff). Von besonderem<br />
Interesse für die vorliegende Fragestellung ist<br />
jedoch der Begriff der Ich-Identität von Erik<br />
Erikson. Warum gerade Erikson? Erikson ist<br />
von Interesse, weil er dem Begriff der Ich-<br />
Identität die spezifische Funktion eines Übergangsphänomens<br />
zuweist, das gerade dann auftaucht,<br />
wenn ein Kind von einer Entwicklungsphase<br />
in die nächste überwechselt. Damit thematisiert<br />
Erikson Ich-Identität nicht unter dem<br />
Gesichtspunkt, daß allem Identität zukommt<br />
und Identität somit den Normalfall darstellt<br />
(vgl. Henrich 1979), sondern anhand der Fragestellung,<br />
wann Identität die paradoxe Erfahrung<br />
des Nicht-Identischen macht und somit