Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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76 FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />
nur Widerspruch (vgl. Hirschman 1974: 28).<br />
Hinzu kommt, daß bei politischen Entscheidungen<br />
nicht nur eine Zurechnung der Enttäuschung<br />
der Erwartung auf spezifische Entscheidungen<br />
anderer möglich ist, sondern auch die<br />
Chance sich bietet, Protest zu formieren und<br />
damit eine Konzentration der Kommunikation<br />
zu bewirken.<br />
<strong>Soziale</strong> <strong>Bewegungen</strong> lassen sich als Protestbewegungen<br />
beschreiben. Dabei ist Protest eine<br />
Form, die immer mit einem bestimmten Thema<br />
als Inhalt auftritt. Geht man davon aus,<br />
daß ein soziales Problem die Zurechnung einer<br />
Enttäuschung einer Erwartung auf eine Entscheidung<br />
anderer ist, so läßt sich die Form<br />
von Protest als der Anspruch verstehen, diese<br />
Entscheidung zu ändern oder rückgängig zu<br />
machen. „Proteste sind Kommunikationen, die<br />
an andere adressiert sind und deren Verantwortung<br />
anmahnen." (Luhmann 1991b: 135)<br />
Geht man ferner davon aus, daß es dann zur<br />
Subsystembildung einer milieuspezifischen<br />
Bewegung kommt, wenn der Zentralwert und<br />
damit die Identität des Milieus selbst in Frage<br />
steht, so würde es sich bei der enttäuschten<br />
Erwartung um eben diesen Zentralwert handeln,<br />
eine Erwartung, deren Enttäuschung sich<br />
möglicherweise einer bestimmten politischen<br />
Entscheidung zurechnen läßt, verbunden mit<br />
dem Anspruch, diese Entscheidung zu ändern<br />
oder rückgängig zu machen. Der Form von<br />
Protest liegt also generell die Unterscheidung<br />
von Erwartung und Enttäuschung zugrunde,<br />
verbunden mit dem Anspruch auf Veränderung<br />
der Entscheidung, während das Thema<br />
eine konkrete Erwartung betrifft, die enttäuscht<br />
wurde, durch wen und wie auch immer. Indem<br />
nunmehr beide Seiten dieser Unterscheidung<br />
aber nicht mehr beliebig, sondern bestimmt<br />
sind, handelt es sich um einen binären Schematismus.<br />
Hinsichtlich der Frage, wie es sozialen <strong>Bewegungen</strong><br />
gelingt, Milieus ihrer jeweiligen Zentralwerte<br />
und das heißt: ihrer Identität zu versichern,<br />
wird die fünfte These aufgestellt, daß<br />
gerade die spezifische Kombination von Milieu-<br />
und Gesellschaftsbezug (Selbst- und<br />
Fremdreferenz), wie sie Protest aufweist, geeignet<br />
ist, die Identität des einer sozialen Bewegung<br />
zugrunde liegenden Milieus zu thematisieren<br />
und damit gegen Erosion zu immunisieren.<br />
Gewährleistet wird das durch die<br />
Form von Protest: Sie besteht aus zwei Seiten,<br />
einerseits der Erwartung, die enttäuscht wurde,<br />
andererseits dem Ereignis, das zu dieser<br />
Enttäuschung geführt hat - System und Umwelt,<br />
wobei das, was jeweils Gegenstand der<br />
Beobachtung wird, in der hochselektiven Perspektive<br />
des Protests verbleibt. Mit Robert<br />
Merton könnte man auch sagen, daß der Gesellschaftsbezug<br />
häufig die manifeste Funktion<br />
sozialer <strong>Bewegungen</strong> repräsentiert, während<br />
der Milieubezug mitunter auf eine latente<br />
Funktion verweist, die soziale <strong>Bewegungen</strong><br />
immer auch wahrnehmen: Strategy and Identity.<br />
Hinzutreten Plausibilität der Themenwahl<br />
und Medienresonanz, um erfolgreich zu mobilisieren.<br />
Nicht zuletzt kommt dem Protest im<br />
Falle sozialer <strong>Bewegungen</strong> zumeist gesellschaftliche<br />
Relevanz zu, da es sich um milieuspezifische<br />
Werte mit universaler Geltung handelt:<br />
Es geht auch um die Allzuständigkeit des<br />
Milieus für seine spezifische Wertpräferenz,<br />
die hier auf dem Spiel steht. Deshalb geht es<br />
häufig auch um das Milieu gegen den Rest der<br />
Gesellschaft.<br />
<strong>Soziale</strong>n <strong>Bewegungen</strong> kommt aber auch eine<br />
ritaeile Funktion zu, durch die Art und Weise,<br />
wie sie Mobilisierung betreiben: Strukturelle<br />
Spannungen bleiben, akute Ereignisse treten<br />
immer wieder auf. Bei Dürkheim läßt sich gut<br />
studieren, inwieweit Rituale eine identitätsstiftende<br />
Funktion haben und Desintegrationserscheinungen<br />
durch Konsolidierung und Soli-