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Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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48 FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />

Von einem kollektives Selbst soll nun dann<br />

die Rede sein, wenn die eigene Person, ihr<br />

Erleben und Verhalten sowie die Reaktionen<br />

der sozialen Umwelt ihr gegenüber, vorrangig<br />

im Lichte eines als sozial geteilt erlebten Selbst-<br />

Aspekts interpretiert wird. Kurzum: Kollektives<br />

Selbst meint die Zentrierung der Selbst-<br />

Interpretation(en) um einen als sozial geteilt<br />

erlebten Selbst-Aspekt, welcher dadurch das<br />

aktuelle Selbst-Bild dominiert. Mit der Aktivierung<br />

eines kollektiven Selbst rückt dann<br />

insbesondere die Austauschbarkeit der eigenen<br />

Person mit/durch Personen, mit denen man<br />

den dominanten Selbst-Aspekt teilt bzw. zu<br />

teilen glaubt, in den Vordergrund. Aktivierung<br />

des individuellen Selbst bedeutet demnach, daß<br />

die Einzigartigkeit der eigenen Person in den<br />

Vordergrund rückt.<br />

Selbst-Interpretationen vollziehen sich niemals<br />

in einem sozialen Vakuum, sondern stets im<br />

Kontext (kon)figurierter Sozialbeziehungen<br />

(Elias 1988, 1990). Angesichts des Einflusses<br />

von Modernisierungsprozessen auf die Konfiguration<br />

von Sozialbeziehungen ist deshalb zu<br />

fragen, wie sich das Verhältnis von individuellem<br />

und kollektivem Selbst (hinsichtlich ihrer<br />

Beiträge zum menschlichen Selbst-Verständnis)<br />

unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft<br />

gestaltet.<br />

Traditionelle („klassische") soziologische<br />

Theorien haben Modernisierung als funktionale<br />

Differenzierung konzeptualisiert. Wie u.a.<br />

Esser (1988) aufgezeigt hat, ist im Zuge einer<br />

so verstandenen Modernisierung zu erwarten,<br />

daß traditionale Vergemeinschaftungen, etwa<br />

in Form von familiären, dörflichen, ständischen<br />

oder ethnischen Gemeinschaften, zunehmend<br />

ihre soziale Bindekraft verlieren. Gleichzeitig<br />

ist in modernen (funktional differenzierten) Gesellschaften<br />

eine zunehmende „Kreuzung sozialer<br />

Kreise" (Simmel 1958) zu verzeichnen,<br />

d.h. eine Zunahme der Komplexität des sozia­<br />

len Koordinatensystems, in dem jede/r Einzelne<br />

verortet ist. Durch diese zunehmende Komplexität<br />

des sozialen Koordinatensystems wird<br />

nun die Individualität des Einzelnen zunehmend<br />

genauer bestimmt. Aus psychologischer<br />

Perspektive entspricht dieser Verortung der eigenen<br />

Person in einem komplexeren, weil stärker<br />

ausdifferenzierten, sozialen Koordinatensystem<br />

eine kognitive Ausdifferenzierung weiterer<br />

unabhängiger Selbst-Aspekte. Mit anderen<br />

Worten: Die moderne Gesellschaft erweitert<br />

die Grundlage für die Selbst-Interpretation<br />

als einzigartiges Individuum, d.h. für die Konstituierung<br />

des individuellen Selbst. Das indi-<br />

\iduelle Selbst spiegelt also als psychologische<br />

Matrix die komplexe soziale Verortung<br />

der eigenen Person in der modernen Gesellschaft<br />

wider. Andererseits eröffnen sich in der<br />

modernen Gesellschaft aber auch zahlreiche<br />

Chancen für neue Vergemeinschaftungen, und<br />

zwar entlang der zusätzlichen Achsen bzw. Dimensionen<br />

des in seiner Komplexität gewachsenen<br />

sozialen Koordinatensystems (etwa entlang<br />

der Dimensionen Nation, Alter, Geschlecht<br />

oder auch sexuelle Orientierung). Mit bzw. aufgrund<br />

der Zunahme von Vergemeinschaftungschancen<br />

in modernen Gesellschaften wird allerdings<br />

die Stabilität bzw. Permanenz jeder<br />

einzelnen. Vergemeinschaftung beeinträchtigt,<br />

während die Austauschbarkeit und Wählbarkeit<br />

von Vergemeinschaftungen insgesamt zunimmt<br />

(Elias 1988, 1990; Esser 1988). Aus<br />

psychologischer Perspektive wiederum bedeutet<br />

dies, daß sich durch die Ausdifferenzierung<br />

weiterer unabhängiger Selbst-Aspekte, von denen<br />

jeder zur Grundlage eines kollektiven<br />

Selbst werden kann, die Anzahl potentieller<br />

kollektiver Selbst-Interpretationen vervielfacht.<br />

Diese Vervielfachung beeinträchtigt jedoch die<br />

Permanenz bzw. Stabilität jeder einzelnen kollektiven<br />

Selbst-Interpretation. Auch wenn also<br />

nicht erwartet werden kann, daß das kollektive<br />

Selbst obsolet geworden ist, so sollten kollektive<br />

Selbst-Interpretationen in modernen Ge-

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