Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995 75<br />
Basis jener Subsystembildung darstellen, die<br />
wir soziale <strong>Bewegungen</strong> nennen, dann stellt<br />
sich die Frage, welcher Art das Problem generell<br />
ist, das einen derartigen Strukturwandel<br />
erforderlich macht?<br />
Die Strukturen sozialer Systeme sind Erwartungsstrukturen.<br />
Definiert man ein Problem -<br />
soziologisch betrachtet 10<br />
- als die Enttäuschung<br />
einer Erwartung, dann muß es sich um spezifische<br />
Erwartungen des jeweiligen Milieus handeln,<br />
die enttäuscht werden, wenn es zur Systembildung<br />
einer milieuspezifischen Bewegung<br />
kommt. Die Überlegung ist, daß dem<br />
erforderlich werdenden Strukturwandel, der ein<br />
Milieu zur Subsystembildung einer sozialen<br />
Bewegung zwingt, eine Erwartungsenttäuschung<br />
zugrunde liegt, die das Milieu selbst<br />
und damit seine Identität angreift und somit<br />
die Gefahr seiner Zerstörung birgt. Geschieht<br />
dies, kann es sich nur um den Zentralwert des<br />
Milieus handeln, denn wird dieser in Frage<br />
gestellt, wird das Milieu selbst in Frage gestellt.<br />
Das geschieht idealtypisch durch die Erfahrung<br />
des Gegenteils dessen, was der Wert<br />
selbst darstellt. Für das Niveaumilieu würde<br />
das etwa bedeuten, daß es aufgrund seiner vorrangigen<br />
Orientierung an Rang die Erfahrung<br />
eines Monopolverlust seiner privilegierten Stellung<br />
macht: Unten statt Oben. Für das Integrationsmilieu<br />
könnte es etwa die Erfahrung<br />
von Ereignissen sein, die von seiner Vorstellung<br />
von Konformität stark abweichen, ggf.<br />
sogar konträr laufen: Abweichung statt Anpassung.<br />
Das Harmoniemilieu, auf der Suche nach<br />
Geborgenheit, könnte aufgrund bestimmter<br />
Konkurrenzerfahrungen im Arbeits- und Wohnbereich,<br />
also dort, wo sich ihm am Empfindlichsten<br />
ein Gefühl von Bedrohung aufdrängt,<br />
aufgestöbert werden und dadurch die Neigung<br />
zur Verdichtung seiner kommunikativen und<br />
interaktiven Beziehungen entwickeln, um sich<br />
zu wehren und etwas dagegen zu unternehmen:<br />
Störung statt Sicherheit. Das Unterhal<br />
tungsmilieu, auf Action eingestellt, könnte wiederum<br />
entsprechende Maßnahmen ergreifen,<br />
wenn es etwa die Erfahrung von Langeweile<br />
aufgrund ungenügender äußerer Anreize macht<br />
(z. B. mangelnde Freizeitangebote und -gelegenheiten<br />
etc.): Langeweile statt Action.<br />
Schließlich das Selbstverwirklichungsmilieu,<br />
das bei der Suche nach Selbstverwirklichung<br />
dann in größte Bedrängnis käme, würde es an<br />
seiner Suche nach Selbstverwirklichung gehindert<br />
werden: Entfremdung statt Entfaltung.<br />
Allgemein läßt sich sagen, daß man Probleme<br />
sich selbst oder anderen zurechnen kann. Es<br />
handelt sich also um die Unterscheidung von<br />
endogenen oder exogenen Problemen, wobei<br />
zu überlegen wäre, endogene Probleme als Integrationsprobleme,<br />
d.h. als milieuzersetzende<br />
Zunahme an Freiheitsgraden, und exogene<br />
Probleme als Inklusionsprobleme, d.h. als ungenügende<br />
Inklusion in die Gesellschaft, zu<br />
beschreiben. Feiner kann unterschieden werden<br />
zwischen strukturellen Spannungen, die<br />
ständig Probleme machen, und aktuellen Ereignissen,<br />
die einen akuten Problemdruck auslösen,<br />
wie politische Entscheidungen. Aktuelle<br />
Ereignisse üben häufig einen 'threshold'-<br />
Effekt aus, der ein gegebenes Problempotential<br />
über die Schwelle der Sichtbarkeit hebt.<br />
Femer kann es immer wieder zu diesem Überschreitungseffekt<br />
kommen, so daß es immer<br />
wieder nötig ist, darauf mit der Systembildung<br />
sozialer <strong>Bewegungen</strong> zu reagieren. Dabei<br />
kommt gerade politischen Entscheidungen für<br />
die Subsystembildung einer milieuspezifischen<br />
Bewegung mit Sicherheit eine besondere Initialwirkung<br />
zu, weil sich durch die kollektive<br />
bindende Wirkung politischer Entscheidungen<br />
der Eindruck einer Erwartungsenttäuchung für<br />
das jeweilige Milieu generell einstellt: Zumeist<br />
alle Mitglieder eines bestimmten Milieus sind<br />
betroffen, gewissermaßen eine Situation, in der<br />
die Möglichkeit des Ausweichens einzelner<br />
schwierig ist: Geht Abwanderung nicht, bleibt