Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995<br />
wegungen, verglichen mit anderen westlichen<br />
Ländern, in Deutschland sowohl quantitativ<br />
als auch ideologisch sehr stark ausgeprägt sind.<br />
Ein letzter und vielleicht nicht unbedeutender<br />
Grund liegt darin, daß die Mehrheit der Forscher,<br />
die sich mit den neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong><br />
beschäftigen, entweder stark mit diesen<br />
<strong>Bewegungen</strong> sympathisieren oder dort sogar<br />
aktiv waren bzw. sind. Die potentiell problematische<br />
Natur dieser starken persönlichen<br />
und politischen Nähe zum Forschungsgegenstand<br />
wurde schon in anderen Kontexten ausführlich<br />
diskutiert.<br />
Hier geht es mir um die theoretische und empirische<br />
Einseitigkeit, die die starke Konzentration<br />
auf neue soziale <strong>Bewegungen</strong> mit sich<br />
bringt. Allerdings bestehen auch auf dem Feld<br />
der neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> noch beträchtliche<br />
Forschungslücken. Zum einen ist das Forschungsinteresse<br />
sehr ungleich über die verschiedenen<br />
neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> verteilt.<br />
So erfreut sich die Friedens- und vor<br />
allem die Ökologiebewegung zwar großer Aufmerksamkeit,<br />
aber über andere, zwar kleinere,<br />
aber nicht unbedingt weniger wichtige oder<br />
wissenschaftlich interessante <strong>Bewegungen</strong> wissen<br />
wir noch relativ wenig. Ich denke dabei<br />
zum Beispiel an die Solidaritäts- und Dritte<br />
Weltbewegung, die Schwulenbewegung, die<br />
Autonomen und nicht zuletzt auch an die Frauenbewegung,<br />
der zwar immer eine wichtige<br />
Rolle zugeschrieben wird, aus bewegungstheoretischer<br />
Perspektive aber kaum empirisch untersucht<br />
worden ist. Eine zweite Lücke ergibt<br />
sich aus der Tatsache, daß nur wenige Studien<br />
der neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> vergleichend<br />
angelegt sind. International vergleichende Studien<br />
gibt es in den letzten Jahren glücklicherweise<br />
immer mehr, aber der große Teil davon<br />
befaßt sich nur mit der Antiatomkraftbewegung.<br />
Da diese Bewegung auch in den nur auf<br />
Deutschland ausgerichteten Studien stark vertreten<br />
ist, besteht die Gefahr, daß sie gewisser<br />
maßen zum Modellfall für den ganzen Sektor<br />
der neuen sozialen <strong>Bewegungen</strong> in Deutschland<br />
wird. Da es kaum systematische Vergleiche<br />
zwischen den verschiedenen neuen sozialen<br />
<strong>Bewegungen</strong> gibt, sind die Folgen umso<br />
gravierender. Studien, die beide Vergleichsebenen<br />
zugleich in Betracht ziehen - also mehrere<br />
<strong>Bewegungen</strong> in mehreren Ländern -, findet<br />
man noch weniger.<br />
Das auf Dauer größte Problem scheint mir<br />
aber die Überwindung der exklusiven Konzentration<br />
auf den Sektor der neuen sozialen<br />
<strong>Bewegungen</strong> zu sein. Im Moment sieht es so<br />
aus, als ob die Bewegungsforschung in<br />
Deutschland sich dauerhaft etabliert hat und<br />
aus den Sozialwissenschaften nicht mehr wegzudenken<br />
ist. Das schien Mitte der achtziger<br />
Jahren ebenso in den Niederlanden der Fall zu<br />
sein. Mit der Schrumpfung der neuen sozialen<br />
<strong>Bewegungen</strong> seit 1985 reduzierte sichjedoch<br />
auch die niederländische Bewegungsforschung<br />
auf eine Handvoll Leute. Gewiß hat die deutsche<br />
Bewegungsforschung viel bessere Chancen,<br />
das jetzige Mobilisierungstief der neuen<br />
sozialen <strong>Bewegungen</strong> zu überleben, aber auch<br />
sie läuft Gefahr, wie eine Modeerscheinung zu<br />
verschwinden, wenn sie sich nicht zusätzliche<br />
Forschungsfelder erschließt.<br />
Möglichkeiten einer solchen Ausweitung des<br />
Feldes gibt es genügend. Erstens haben soziale<br />
<strong>Bewegungen</strong> nicht nur in den letzten Jahrzehnten<br />
eine außergewöhnlich große Rolle in<br />
der deutschen Politik gespielt. Die revolutionäre<br />
und sozialdemokratische Arbeiterbewegung<br />
und der Nationalsozialismus sowie andere<br />
historische soziale <strong>Bewegungen</strong> sind zwar<br />
Gegenstand einer Fülle von sozialwissenschaftlichen<br />
und historischen Studien gewesen, aber<br />
Analysen dieser <strong>Bewegungen</strong> aus bewegungstheoretischen<br />
Gesichtspunkten liegen kaum<br />
oder gar nicht vor. Hier unterscheidet sich die<br />
deutsche Bewegungsforschung stark von der