Vollversion (5.75 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 8, HEFT 1, 1995 79<br />
zerfall zu verhindern und ggf. der Gefahr einer<br />
Identitätsdiffuion vorzubeugen.<br />
Hinsichtlich sozialer <strong>Bewegungen</strong> wird angenommen,<br />
daß soziale <strong>Bewegungen</strong> die Funktion<br />
haben, ein Problem, das ein ihnen jeweils<br />
zugrunde liegendes soziales Milieu mit der Anerkennung<br />
seiner Identität hat, für dieses Milieu<br />
vorübergehend zu lösen, indem sie auf die<br />
System/Umwelt-Differenz dieses Milieus und<br />
damit auf die Identität des Milieus in Differenz<br />
zu seiner Umwelt reflektieren. Insofern<br />
repräsentieren soziale <strong>Bewegungen</strong> die kollektive<br />
Identität des ihnen jeweils zugrunde<br />
liegenden sozialen Milieus.<br />
Neben dieser Beziehung zwischen sozialem<br />
Milieu, Identitätsproblematik und sozialer Bewegung<br />
bleibt zu fragen, ob und wann nicht<br />
auch die Identität der Bewegung selbst zum<br />
Thema wird. Dann würde es sich beim Zusammenhang<br />
von sozialer Bewegung und kollektiver<br />
Identität freilich um die kollektive<br />
Identität der Bewegung selbst handeln. Hierbei<br />
ist jedoch zu berücksichtigen, daß bei dieser<br />
Betrachtungsweise möglicherweise keine<br />
Bildung eines Subsystem des Subsystems soziale<br />
Bewegung selbst mehr vorliegt, das auf<br />
die Identität dieser Bewegung in Differenz zu<br />
deren Umwelt reflektiert, sondern daß es Intellektuelle<br />
(etwa für die Arbeiterbewegung)<br />
der Wissenschaftler (so für die neuen sozialen<br />
<strong>Bewegungen</strong>) sind, die diese Funktion wahrnehmen,<br />
und die Reflexion auf die kollektive<br />
Identität einer sozialen Bewegung somit außerhalb<br />
der Bewegung stattfindet und nicht<br />
als Teil der Bewegung selbst (Giesen 1993:<br />
68ff.) - sofern man diese Refiexionsexperten<br />
nicht wiederum zum Sympathiekreis der Bewegung<br />
zählt und damit inkorporiert.<br />
Kai-Uwe Hellmann hat in Berlin promoviert.<br />
(Glückwunsch, die Rest-Red.)<br />
Anmerkungen<br />
1<br />
Vgl. Krockow 1985: „Die Frage nach der Identität<br />
stellt sich daher nicht als Regel, sondern als<br />
Ausnahmne, die nach Erklärungsbedarf, als Folge<br />
besonderer Umstände, die das Gehäuse des<br />
Selbstverständlichen zerbrechen ließen." (144)<br />
2<br />
Mit Ross W. Ashby könnte man diesen Moment<br />
eines Strukturwandels auch im Sinne von „critical<br />
states" verstehen: „should one of them occur, the<br />
step-function will change value." (Ashby 1978:<br />
91) Der Paramenterbestand ändert sich zwar, die<br />
'Ultrastabilität' des Systems bleibt jedoch erhalten.<br />
3<br />
vgl. Kuhn 1976: „Daraus ergibt sich, daß die<br />
Annahme eines neuen Paradigmas oft eine neuen<br />
Definition der entsprechenden Wissenschaft erfordert."<br />
(116)<br />
" Von institutionalisierten Formen der Reflexion<br />
innerhalb von Funktionssystemen soll hier abgesehen<br />
werden, wie Grundlagenforschung oder<br />
Theologie.<br />
5<br />
Dabei ist das Resultat immer eine „Selbstsimplifikation"<br />
(Luhmann/Schorr 1988: 351) des Systems,<br />
da sich das System nie in seiner ganzen<br />
Komplexität erfassen kann.<br />
6<br />
vgl. Hellmann 1994.<br />
7<br />
Was Schulze mit dem Milieubegriff anpeilt, sind<br />
gewissermaßen reine Typen, Idealtypen, denen<br />
konkrete Personen in der Realität so nur selten<br />
entsprechen; die eindeutige Zuordnung einer Person<br />
zu nur einem Milieu ist deshalb kaum erwartbar.<br />
Gleichwohl handelt es sich um distinkte Muster<br />
der Orientierung, die in sich eine mehr oder<br />
weniger kohärente Struktur aufweisen und sich<br />
dadurch voneinander unterscheiden lassen. Überdies<br />
steht zu erwarten, daß nicht alle Personen<br />
allen Milieus gleichermaßen zugehören und sich<br />
somit eine Art Hierarchie anhand der Zentralwerte<br />
beobachten läßt, die 'DenksüT und 'Handlungsstil'<br />
der Personen leiten. Insofern wäre dann von<br />
der Abgrenzbarkeit der Milieus auszugehen.<br />
8<br />
Bernhard Giesen spricht zwar nicht von Zentralwerten,<br />
sondern von Codes, hat damit aber offensichtlich<br />
etwas ganz ähnliches im Auge: „Codes<br />
der sozialen Klassifikation machen den Kern der<br />
Konstruktion von Gemeinschaftlichkeit und