Wettbewerber- Report Eisenbahn 2010/2011 - Mofair
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Neues Damoklesschwert:<br />
Nach der Norm ist vor der Norm…<br />
Die Fahrzeugtypen, die derzeit von der Industrie für Betriebsaufnahmen 2013 ff angeboten<br />
werden, haben zum großen Teil in den vergangenen Jahren bereits mehrere erhebliche<br />
konstruktive Weiterentwicklungen erfahren. Ursächlich sind die steigenden Anforderungen<br />
der überwiegend europäischen Normengebung. Die wesentlichen Treiber sind technische<br />
Spezifikationen zur Interoperabilität (TSI), Umweltnormen, sonstige technische Vorgaben<br />
und ergänzende Anforderungen auf nationaler Ebene in Verbindung mit der Infrastruktur<br />
(z. B. zur Elektromagnetischen Verträglichkeit – EMV).<br />
Gravierende konstruktive Folgen sind z. B. mit diesen Normen verbunden:<br />
• Januar <strong>2010</strong>: TSI PRM (»Passengers with reduced mobility«): Neugestaltung des Innenraumes,<br />
Vergrößerung des WC, damit weniger Sitzplätze<br />
• Januar 2012: Abgasnorm Stage IIIb: Andere Motoren und Nebeneinrichtungen erforderlich,<br />
damit teils Bedarf für veränderte Einbauräume der neuen Aggregate mit entsprechendem<br />
Umkonstruktionsaufwand an Drehgestellen und Wagenkasten<br />
• Juni 2012 EN 15227 (»Crashnorm«): Komplette Neukonstruktion der Fahrzeugfronten<br />
mit Stoßverzehrelementen, Schutz der Fahrzeugübergänge gegen Aufklettern etc. Folge:<br />
Weniger Sitzplätze, Gewichtszunahme<br />
Die Verschärfung der vorgenannten Normen erzwingt die Änderung von Bauteilen, für<br />
die neue Nachweise und Dokumentationen zu liefern sind. Zulassungsaufwand und Zulassungsrisiken<br />
steigen praktisch mit jedem veränderten Bauteil. Dabei sind auch die indirekt<br />
betroffenen Elemente zu beachten, die womöglich gar nicht Kern der Norm sind. Mittelbare<br />
Folge ist die Neuauslegung der Drehgestelle, weil die Komponenten schwerer werden. Im Ergebnis<br />
nehmen die Kosten je Fahrzeug zu, solange sich keine Skaleneffekte einer Serienfertigung<br />
einstellen können.<br />
Als Konsequenz der Probleme beim Fahrplanwechsel im Dezember 2009 und weiteren<br />
technischen Schwierigkeiten (ICE-Achsen, S‐Bahn Berlin) gründete sich eine Arbeitsgruppe<br />
aus BMVBS, EBA, VDB, VDV und anderen, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Abläufe im und<br />
Zuständigkeiten für den Zulassungsprozess klarer zu regeln und damit die Planungssicherheit<br />
für alle Beteiligten zu erhöhen. Dies umfasst z. B. Klarheit und Sicherheit über anzuwendende<br />
Normen für einen bestimmten Zeitraum und die Definition von Bestandsschutz.<br />
In einem für alle Akteure verbindlichen »Leitfaden für die Herstellung und Zulassung« werden<br />
die Ergebnisse festgehalten.<br />
Ob die neuen Vereinbarungen einen Fortschritt bedeuten, wird das nächste Damoklesschwert<br />
am Normen-Horizont austesten: die TSI Conventional Rail Locomotives and Passenger<br />
Rolling Stock (CR LOC&PAS). Diese fordert ein Bündel an Änderungen ein, z. B.<br />
beim Brandschutz, der Bremsausrüstung, der elektrischen und leittechnischen Ausrüstung,<br />
der Klimatisierung (CO 2 -Konzentration im Fahrgast- und Fahrerraum), den Achsen und Rädern<br />
sowie dem Grauwasser im WC-Bereich. Zwar sieht die neue TSI Übergangsregelungen<br />
bis 2017 vor (u. a. sind bereits erteilte Aufträge ausgenommen), doch rückt die Zeitschiene<br />
für Fahrzeugauslieferungen nach 2017 bedrohlich an die Gegenwart heran, sobald man die<br />
langen Vorlauffristen beachtet.<br />
Laut den Herstellern hat die Einführung der Norm zwei gravierende Auswirkungen: Zum<br />
einen werde sich der Entwicklungsaufwand für die zahlreichen konstruktiven Anpassungen<br />
auf etwa 25 Mio. Euro je Fahrzeugtyp belaufen. Zweitens werde nach der Analyse der Arbeitsgruppe<br />
der Zeitaufwand von der Auftragserteilung bis zur Lieferung von 20 Fahrzeugen<br />
als Prototypen einschließlich der Zulassung etwa 44 Monate betragen. Addiert man<br />
den Zeitbedarf für die vorgeschaltete Vergabe des Verkehrsvertrags hinzu, dehnt sich die<br />
Zeitspanne auf 54 bis 62 Monate zwischen Veröffentlichung im Amtsblatt und Betriebsaufnahme<br />
aus. Fünf Jahre Vorbereitungszeit für ein »normales« Verfahren…<br />
66 <strong>Wettbewerber</strong>-<strong>Report</strong> <strong>Eisenbahn</strong> <strong>2010</strong>/<strong>2011</strong>