Ausgabe 199
Magazin mit Berichten von der Politik bis zur Kultur: sechs Mal jährlich mit bis zu 145 Seiten Österreich. Downloads in vier verschiedenen pdf-Varianten auf http://oesterreichjournal.at/
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ÖSTERREICH JOURNAL NR. <strong>199</strong> / 22. 06. 2021<br />
Innenpolitik<br />
77<br />
Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf<br />
Blick auf die TeilnehmerInnen der gemeinsamen Sondersitzung der Präsidialkonferenzen des Nationalrates und des Bundesrates<br />
ratspräsident die Notwendigkeit, die Erinnerung<br />
lebendig zu erhalten und die eigene<br />
Verantwortung von heute zu ergründen.<br />
Gedenken soll auch Orientierung<br />
für die Gegenwart geben<br />
Die ZeitzeugInnen werden uns auch im<br />
Hinblick auf die zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen fehlen, waren sich die DiskutantInnen<br />
Barbara Glück, Linda Erker, Eidel<br />
Malowicki und Luigi Toscano einig und<br />
meinten, Biografien seien ein Schlüsselelement<br />
in der Geschichtsvermittlung. In diesem<br />
Zusammenhang wurde aber auch die<br />
Notwendigkeit angesprochen, den Fokus in<br />
der Gedenkarbeit künftig verstärkt auch auf<br />
die Verantwortung der TäterInnen zu lenken.<br />
So betonte die Historikerin Erker, die Frage<br />
nach dem „Wer“ werde immer zentraler werden.<br />
„Wer sind die Verantwortlichen und was<br />
kann ich mir davon mit ins Heute nehmen?“,<br />
so Erker. Daß es wichtig ist, zu untersuchen,<br />
in welchen Situationen Menschen damals<br />
waren, unterstrich auch Glück: „Viele befanden<br />
sich in Ohnmachtssituationen, viele aber<br />
auch in Situationen, in denen sie Handlungsoptionen<br />
hatten.“<br />
Entscheidend für eine nachhaltige Ge -<br />
denkarbeit sei auch das Engagement der Zi -<br />
vilbevölkerung, so Glück: „An vielen Orten<br />
ehemaliger Außenlager in Österreich, engagiert<br />
sich die Zivilgesellschaft, so entstehen<br />
zahlreiche neue Gedenkstätten.“ Engagement<br />
der Zivilgesellschaft hat etwa auch Luigi<br />
Toscano in Wien erlebt, nachdem seine Fotoausstellung,<br />
die vor zwei Jahren prominent<br />
auf der Wiener Ringstraße gezeigt wurde,<br />
wie derholt zerstört wurde: „Bilder wurden<br />
zerschnitten, auf eines wurde sogar ein<br />
Hakenkreuz gemalt.“ Daß dies ausgerechnet<br />
in Wien an dieser Stelle in dieser Häufigkeit<br />
und Brutalität passierte, habe ihn zutiefst er -<br />
schrocken. „Letztendlich ist die Zivilgesellschaft<br />
aber durch diese Vorfälle aufgestanden.<br />
Viele haben sich beteiligt, teilweise ha -<br />
ben junge muslimische Frauen angefangen<br />
die Bilder zu reparieren und zu beschützen.<br />
Daraus ist etwa Tolles entstanden.“<br />
Daß jede Generation ihre eigenen Formate<br />
finden und auf ihre eigene Art und Weise<br />
ihre Lehren aus der Geschichte ziehen muß,<br />
darüber waren sich die DiskutantInnen einig.<br />
Motivation und gute Ansätze seien bereits<br />
vorhanden, benötigt würden aber neue Formen<br />
des Gedenkens und spannende Transfer -<br />
formate, meinte Toscano. Erker wünscht sich<br />
für die künftige Gedenkarbeit außerdem, daß<br />
diese nicht bei einer Ritualisierung stehenbleibe.<br />
Sie forderte Diskussionen, etwa über<br />
Kriegerdenkmäler, auf allen Ebenen ein und<br />
wünschte sich in dieser Beziehung eine De -<br />
zentralisierung. Diskussionen und Reibungspunkte<br />
seien weiterhin wichtig für eine dy -<br />
namische Gedenkkultur, vor allem aber<br />
auch, die Diskussion mit einem Heute-Bezug<br />
anzuregen. Das Gedenken allein liefere nur<br />
eine unzureichende Orientierung für die Ge -<br />
genwart.<br />
Mit Sorge sprachen alle vier Teilneh -<br />
merInnen den Anstieg von antisemitischen<br />
Angriffen seit Pandemiebeginn an. Der Zu -<br />
sammenhang zwischen Verschwörungstheorien<br />
und Antisemitismus käme daher, weil<br />
Menschen es sich gerne leicht machten, so<br />
Erker. Man suche einen Sündenbock, was<br />
aber zeitgeschichtlich kein neues Phänomen<br />
sei. Antisemitismus sei gesellschaftlich und<br />
historisch tief verankert. Einen wesentlichen<br />
Faktor stelle daher die Bildung dar, denn nur<br />
ein gut informierter Mensch sei kein Antisemit<br />
mehr, so das Resümee.<br />
Die Projekte »Gegen das<br />
Vergessen« und »Likrat«<br />
„Gegen das Vergessen“ ist eine einzigartige<br />
Freiluftinstallation mit überlebensgroßen<br />
Porträtfotos von Überlebenden der NS-Verfolgung.<br />
Der Fotograf Luigi Toscano hatte die<br />
Ehre, alle Porträtierten persönlich zu treffen<br />
und zu fotografieren. Mehr als 400 solcher<br />
Begegnungen gab es bisher. Die Gesichter<br />
und Geschichten des Projekts haben bereits<br />
Menschen auf der ganzen Welt bewegt.<br />
Einer ersten Präsentation in Mannheim folgten<br />
Ausstellungen in Europa und in den<br />
USA, darunter im UNO-Hauptquartier in<br />
New York. „Gegen das Vergessen“ war zum<br />
Internationalen Holocaustgedenktag 2020 zu<br />
Gast bei der UNO in Genf, ein Jahr später<br />
bei der UNESCO in Paris. Anfang dieses<br />
Jahres wurde Luigi Toscano für sein Engagement<br />
als erster Fotograf zum UNESCO<br />
Artist for Peace berufen.<br />
„Likrat“ ist ein europaweites Dialogprojekt<br />
zwischen jüdischen und nicht jüdischen<br />
Jugendlichen mit dem Ziel, Antisemitismus<br />
nachhaltig zu bekämpfen. Der Titel des Projekts<br />
„Likrat“ ist hebräisch und bedeutet aufeinander<br />
zugehen. In diesem Sinne besuchen<br />
jüdische Jugendliche seit 2015 in Wien und<br />
mittlerweile auch in mehreren anderen Bun -<br />
desländern Schulklassen oder Jugendzentren.<br />
Die Jugendlichen haben eine spezifische<br />
Ausbildung und ihr Ziel ist es, in der Begegnung<br />
in der Klasse dem Judentum ein Ge -<br />
sicht zu verleihen und auch einen Raum zu<br />
schaffen, in dem unbefangen Fragen gestellt<br />
werden können. „Likrat“ dient damit dem<br />
Ab bau von Vorurteilen, reduziert Antisemitis -<br />
mus, stärkt den Dialog und fördert so ein<br />
besseres Miteinander der österreichischen<br />
Gesellschaft in der Zukunft.<br />
„Likrat“ Österreich ist ein Projekt der Is -<br />
raelitischen Kultusgemeinde Wien und wur -<br />
de 2021 mit dem Leon-Zelman-Preis für<br />
Dialog und Verständigung ausgezeichnet. n<br />
https://www.parlament.gv.at/<br />
https://www.ikg-wien.at/<br />
Quelle: Parlamentskorrespondenz<br />
»Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at