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Textbuch zur Auslandsakademie Afrique en ... - Cusanuswerk

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studie Die Ökonomie der Hexerei. Oder<br />

warum es in Afrika keine Wolk<strong>en</strong>kratzer<br />

gibt (Peter Hammer Verlag, Wuppertal)<br />

geht er noch weiter als die Comaroffs, und<br />

am Ende scheint es, als gäbe es nur eine<br />

Erklärung für das Dilemma Afrikas: die<br />

Hexerei. Stell<strong>en</strong>weise klingt das so monokausal<br />

wie j<strong>en</strong>e Verschwörungstheorie, die<br />

alle Schuld finster<strong>en</strong> Auß<strong>en</strong>mächt<strong>en</strong><br />

zuschreibt. D<strong>en</strong>noch: Signers provokante<br />

Thes<strong>en</strong> beleb<strong>en</strong> die Debatte über das zerstörerische<br />

Pot<strong>en</strong>zial des Okkultismus, die<br />

in der postkolonial<strong>en</strong> Solidaritätsära auf<br />

dem Altar der Political Correctness geopfert<br />

wurde.<br />

Das Hex<strong>en</strong>wes<strong>en</strong> ist K<strong>en</strong>nzeich<strong>en</strong> vorwiss<strong>en</strong>schaftlicher<br />

Gesellschaft<strong>en</strong>, ein Refer<strong>en</strong>zsystem,<br />

in dem unerklärliche Phänom<strong>en</strong>e<br />

gedeutet werd<strong>en</strong> könn<strong>en</strong>. Sozialpsycholog<strong>en</strong><br />

red<strong>en</strong> von einem Kris<strong>en</strong>symptom, das<br />

verstärkt in Epoch<strong>en</strong> des Umbruchs auftrete;<br />

das traditionelle Afrika gerate durch die<br />

Folg<strong>en</strong> des Modernisierungsschocks –<br />

Landflucht, Entwurzelung, Exist<strong>en</strong>zangst –<br />

aus all<strong>en</strong> Fug<strong>en</strong>. Wie weiland Europa, als<br />

die Scheiterhauf<strong>en</strong> brannt<strong>en</strong> und das Mittelalter<br />

noch einmal aufloderte, ehe es in<br />

der R<strong>en</strong>aissance überwund<strong>en</strong> wurde. In<br />

Anlehnung an die Dialektik der Aufklärung<br />

ließe sich postulier<strong>en</strong>: Der Okkultismus ist<br />

ein Fluch, der in Afrika die gescheiterte<br />

Moderne überschattet.<br />

Der belgische Kulturforscher Filip de<br />

Boeck hat d<strong>en</strong> Hex<strong>en</strong>diskurs im Kongo<br />

untersucht. Dort grassiert eine krankhafte<br />

Furcht vor hübsch<strong>en</strong> klein<strong>en</strong> Mädch<strong>en</strong>. Sie<br />

werd<strong>en</strong> kamoke sukali g<strong>en</strong>annt, Zuckerpüppch<strong>en</strong>,<br />

und verwandeln sich angeblich<br />

in Femmes fatales, um ihre Väter zu verführ<strong>en</strong><br />

und ihn<strong>en</strong> die Hod<strong>en</strong> ab<strong>zur</strong>eiß<strong>en</strong>. Man<br />

erzählt sich auch, dass verwunsch<strong>en</strong>e Frau<strong>en</strong><br />

kleine Hex<strong>en</strong> in Gestalt von Zitteraal<strong>en</strong><br />

gebär<strong>en</strong> oder dass Monsterföt<strong>en</strong> aus ihrem<br />

Schoß kriech<strong>en</strong>. Häufig werd<strong>en</strong> Aids-Wais<strong>en</strong>,<br />

Streetkids oder Kindersoldat<strong>en</strong> der<br />

Schwarz<strong>en</strong> Magie bezichtigt. In Kinshasa<br />

verfolgt der Mob die »Kinder von Lunda«<br />

als Hex<strong>en</strong>; sie hab<strong>en</strong> es beim Diamant<strong>en</strong>such<strong>en</strong><br />

im Kriegsland Angola zu Geld<br />

gebracht und erweck<strong>en</strong> die Missgunst ihrer<br />

verarmt<strong>en</strong>, arbeitslos<strong>en</strong> Väter. Der Erfolg<br />

der Jung<strong>en</strong> gefährdet die gerontokratische<br />

Ordnung, die Älter<strong>en</strong> seh<strong>en</strong> ihre Autorität<br />

erodier<strong>en</strong>. Deshalb mach<strong>en</strong> sie die Heimkehrer<br />

verantwortlich für Armut, Siechtum<br />

und alles unbegreifliche Unglück. Und<br />

gerade j<strong>en</strong>e Bewegung<strong>en</strong>, die voller Bekehrungswut<br />

geg<strong>en</strong> diese Phänom<strong>en</strong>e ankämpf<strong>en</strong>,<br />

die christlich-fundam<strong>en</strong>talistisch<strong>en</strong><br />

Freikirch<strong>en</strong> und Sekt<strong>en</strong>, verstärk<strong>en</strong> durch<br />

<strong>en</strong>dzeitliches Geschrei die Angst vor Teufeln<br />

und Hex<strong>en</strong>.<br />

Es fehlt an rational<strong>en</strong> Geg<strong>en</strong>kräft<strong>en</strong>, an<br />

Aufklärung, an verlässlicher Information.<br />

Die Zeitung<strong>en</strong> – Million<strong>en</strong> von Analphabet<strong>en</strong><br />

könn<strong>en</strong> sie ohnehin nicht les<strong>en</strong> – <strong>en</strong>thalt<strong>en</strong><br />

zumeist nur Schund und Regierungspropaganda.<br />

Die wichtigste Nachricht<strong>en</strong>quelle<br />

heißt radio trottoir, ein Gemisch aus<br />

Tratsch und Hör<strong>en</strong>sag<strong>en</strong>, Gerücht<strong>en</strong> und<br />

Leg<strong>en</strong>d<strong>en</strong>. Hinzu komm<strong>en</strong> bluttrief<strong>en</strong>de<br />

Comics, Wandbilder, Werbeschilder, Kultsongs,<br />

vor allem aber eine Unzahl von Horrorfilm<strong>en</strong>.<br />

Der mit Abstand größte Produz<strong>en</strong>t<br />

ist Nigeria, dort kann man studier<strong>en</strong>,<br />

wie das Video zum unerschöpflich<strong>en</strong> Nährgrund<br />

einer geradezu pandemisch<strong>en</strong> Furcht<br />

wurde.<br />

»Ich habe alles geseh<strong>en</strong>«, behauptet<br />

Moses, unser Cicerone im Labyrinth von<br />

Lagos. »Obersch<strong>en</strong>kel, Gehirn, Schädel.<br />

Auch d<strong>en</strong> Rost, auf dem er das M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong>fleisch<br />

gegrillt hat. Dort unt<strong>en</strong> war’s.« Wir<br />

starr<strong>en</strong> von einer Brücke am Isolo Expressway<br />

auf die Stelle, an der Clifford Orji sein<br />

Unwes<strong>en</strong> trieb, der Mann, der gestand<strong>en</strong><br />

hat, M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong> zu fress<strong>en</strong>. »Er war hauptsächlich<br />

an Frau<strong>en</strong> interessiert«, sagt Moses.<br />

Die Festnahme Orjis im Februar 1999 löst<br />

eine Mass<strong>en</strong>hysterie aus. In Lagos kursier<strong>en</strong><br />

Kal<strong>en</strong>derblätter mit dem Titel Human<br />

Suya, M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong>fleischspieß, auf d<strong>en</strong><strong>en</strong> die<br />

Gräueltat<strong>en</strong> wie in einer Moritat<strong>en</strong>sammlung<br />

illustriert werd<strong>en</strong>. Das Volk ist überzeugt,<br />

dass die »Bestie« im Auftrag von<br />

Hex<strong>en</strong> geschlachtet hat, die für ihre Rituale<br />

M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong>material brauch<strong>en</strong> – das Einverleib<strong>en</strong><br />

von Körperteil<strong>en</strong> gilt als wirksamstes<br />

Mittel.<br />

Clifford Orji war laut Polizeibericht ein<br />

echter Kannibale. Meist<strong>en</strong>s aber handelt es<br />

sich um pure Volksfantasie, w<strong>en</strong>n irg<strong>en</strong>dwo<br />

in Afrika von Anthropophagie geraunt<br />

wird. In all<strong>en</strong> Region<strong>en</strong> des Kontin<strong>en</strong>ts hörte<br />

ich immer wieder von Ritualmord<strong>en</strong>,<br />

vom Handel mit Embryos, von Sklav<strong>en</strong>händlern<br />

und Organräubern, die d<strong>en</strong> Körper<br />

von gesund<strong>en</strong> M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong> als Ersatzteillager<br />

ausschlacht<strong>en</strong>. Das könn<strong>en</strong> in der kollektiv<strong>en</strong><br />

Zwangsvorstellung Landsleute sein,<br />

geldgierige Ärzte, die ihre Pati<strong>en</strong>t<strong>en</strong> verstümmeln,<br />

oder sogar skrupellose Mütter,<br />

die ihr<strong>en</strong> Töchtern die Gebärmutter herausreiß<strong>en</strong>.<br />

Es könn<strong>en</strong> aber auch weiße Aids-<br />

Forscher im berüchtigt<strong>en</strong> Mitsubishi Pajero<br />

sein. Oder die nam<strong>en</strong>los<strong>en</strong> Dämon<strong>en</strong> der<br />

Globalisierung, j<strong>en</strong>es Ungeheuers, das aus<br />

der Sicht vieler Afrikaner ihr<strong>en</strong> Kontin<strong>en</strong>t<br />

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